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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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gegenüberliegende Wand. Buchhalter. Kinderkrankenschwester. Ich konnte mich auch
    gleich lebendig begraben lassen.
    Doch dann kam ausgerechnet von meiner Mutter ein Vorschlag, der mich sehr überraschte.
    »Vielleicht brauchst du einfach mal ein wenig Abstand zu London. Zu uns. Du kommst mir vor wie
    jemand, der in einem kleinen Käfig herumrennt und nur noch die Gitterstäbe sieht, nicht mehr
    die Welt davor.«
    Ich sah Mum erstaunt an. Sie hatte ziemlich genau meine innere Verfassung auf den Punkt
    gebracht.
    »Dir hat es doch damals während des Krieges in Yorkshire so gut gefallen«, fuhr sie fort.
    »Vielleicht solltest du einfach für ein paar Wochen dorthin fahren. Am Meer spazieren gehen,
    dir den Wind um die Nase wehen lassen. Manchmal reicht eine andere Umgebung aus, um neue Wege
    zu sehen.«
    Harold und ich blickten einander überrascht an.
    »Wie hieß sie noch ... die Frau, die dich damals aufgenommen hat? Emma Beckett, oder?
    Vielleicht würde sie dich wieder beherbergen? Gegen einen Unkostenbeitrag natürlich, aber den
    würden wir schon irgendwie aufbringen.«
    Da Mum von meiner Flucht damals nichts wusste, hatten wir ihr auch nicht erzählt, dass Emma gar
    nicht mehr lebte. Und zweifellos war es auch besser, sie erfuhr es nicht. Ob sie mich bei Chad
    - falls dieser den Krieg überlebt hatte -, Arvid und Nobody würde wohnen lassen, erschien mir
    zweifelhaft.
    »Mum, ist das dein Ernst?«, fragte ich. Sie war erstaunt. »Warum denn nicht?«
    Ich warf Harold erneut einen Blick zu und erkannte, dass er dichthalten würde, was Emmas Tod
    anging.
    Mein Herz begann heftig zu klopfen. Der Tag war dunkel gewesen und ohne Perspektive. Nun tat
    sich strahlende Heiligkeit vor mir auf.
    Ich würde alles wiedersehen, was ich liebte. Chad. Die Farm. Das Meer. Unsere Bucht. Die
    weiten, hügeligen Felder Yorkshires.
    Und das auch noch mit Mums Segen.
    Im August 1946 kam ich in Scarborough an, und ich hatte kaum meinen Fuß auf
    den Bahnsteig gesetzt, da wusste ich schon, dass ich wieder zu Hause war und nie mehr fortgehen
    würde. Meine Mutter hatte ich ein wenig austricksen müssen; sie hatte sich mit Emma in
    Verbindung setzen wollen, aber ich hatte behauptet, in ständigem brieflichen Kontakt zu den
    Becketts zu stehen, und dass die Einladung an mich in jedem Schreiben erneut ausgesprochen
    wurde. Da Mum die Zuneigung, die Emma zu mir gefasst hatte, damals nicht entgangen war,
    erschien ihr das glaubhaft. Ein Telefon hatten wir nicht, die Becketts auf ihrer Farm schon gar
    nicht, und der Postweg war in jenen Nachkriegszeiten noch immer langwierig und oft ziemlich
    unzuverlässig. Es stand zu erwarten, dass es sehr lange bis zu einer Antwort dauern würde, wenn
    meine Mutter selbst an die Becketts schrieb, vorausgesetzt, ihr Brief kam überhaupt in
    Staintondale an. Sie hatte sic h schließlich darauf eingelas sen, mich sozusagen ins Blaue hinein abreisen zu lassen, und ich hatte drei
    Kreuze gemacht, als ich endlich im Zug gesessen hatte. Bis zuletzt hatte ich befürchtet, sie
    könne es sich anders überlegen.
    Aber ein wenig nervös war ich doch. Mehr als drei Jahre waren vergangen. Wen oder was würde ich
    vorfinden? Chad noch am Leben, und wenn ja - war er dann auf die Farm zurückgekehrt? Was war
    aus Arvid geworden? Ein verbitterter, einsamer Witwer vielleicht, der überhaupt nicht erfreut
    reagieren würde, wenn er meiner ansichtig wurde. Am Ende war er womöglich dem Alkohol verfallen
    und befand sich in einem schlimmeren Zustand als Harold zu seinen besten Zeiten. Einzig Nobody
    dürfte unverändert geblieben sein. Er musste jetzt etwa vierzehn Jahre alt sein, aber die
    Tatsache, dass er sich auch mit vierzig noch wie ein kleines Kind benehmen würde, machte ihn
    auf angenehme Weise berechenbar.
    Ich musste lange auf den Bus warten, und es war schon Abend, als ich endlich in Staintondale
    ankam. Zum Glück wurde es jetzt im August noch nicht allzu früh dunkel, aber es dämmerte
    bereits, als ich von der Hauptstraße durch die Felder zur Farm wanderte. Der Tag war kühl und
    sonnig gewesen. Was ich besaß, trug ich in einem Rucksack auf dem Rücken, viel war es sowieso
    nicht. Ich fühlte mich frei und glücklich. Pferde, Schafe und Kühe weideten um mich
    herum.
    Und über mir kreischten die Möwen.
    Als ich die Farm in der Ferne erkennen konnte, begann ich zu rennen. Es war nicht nur
    Vorfreude, die mich antrieb, sondern auch bange Nervosität. Ich wollte endlich wissen, wie der
    Stand der Dinge

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