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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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ihn ausging. Er taxierte sie, als wollte er in die Tiefen ihres
    Gehirns vorstoßen. Dann plötzlich glitt ein Ausdruck der Verachtung über sein Gesicht. Er
    spuckte vor ihr auf den Boden. »Schwarzes Pack«, sagte er. »Müsst ihr je tzt auch Yorkshire bevölkern?« Sie zuckte zurück. Sie fragte
    sich, ob er ein Rassist war oder ob er nur provozierte, um sie aus der Reserve zu locken. Er
    wollte, dass sie sich verriet.
    Verhalte dich, als ob das hier eine
    ganz normale Situation wäre.
    Sie merkte, dass ein Schluchzen in
    ihrer Kehle aufstieg, und sie konnte nicht verhindern, dass ihr ein heiserer Laut entfuhr. Das
    hier war eben keine ganz normale Situation. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie ihre Panik
    noch würde kontrollieren können.
    »Mein ... Mann ist Engländer«, sagte
    sie. Für gewöhnlich tat sie das nie. Sie versteckte sich niemals hinter John, wenn sie auf
    Vorurteile stieß, die mit ihrer Hautfarbe zu tun hatten. Aber ein Instinkt hatte ihr diesmal zu
    dieser Antwort geraten. Ihr Gegenüber wusste nun, dass sie verheiratet war und dass es jemanden
    gab, der sie vermissen würde, wenn ihr etwas zustieß. Jemanden, der kein Fremder in diesem Land
    war, der sofort wissen würde, was im Fall des Verschwindens einer Person zu tun war. Jemanden,
    den man bei der Polizei ernst nehmen würde.
    Sie konnte nicht erkennen, ob ihre
    Aussage ihn in irgendeiner Weise beeindruckte.
    »Verschwinde«, sagte er.
    Es war nicht der
    Moment, sich über seine Unhöflichkeit aufzuregen. Oder mit ihm üb er
    die Frage der Gleichberech tigung weißer und dunkelhäutiger Menschen
    zu streiten. Es galt nur zu entkommen und die Polizei aufzusuchen.
    Sie wandte sich zum Gehen.
    Zwang sich, in gleichmäßigen Schritten zu laufen und nicht zu rennen, wie sie es am liebsten
    getan hätte. Er sollte denken, dass sie gekränkt war, aber er durfte nicht wissen, dass sie vor
    Angst beinahe durchdrehte.
    Sie war vier oder fünf Schritte
    weit gekommen, als seine Stimme sie anhielt. »He! Warte mal!«
    Sie blieb stehen.
    »Ja?«
    Er trat an sie heran. Sie
    konnte seinen Atem riechen. Zigarette und saure Milch. »Du warst bei den Schuppen hinten,
    richtig?« Sie musste schlucken. Am ganzen Körper brach ihr der Schweiß aus. »Welche ... welche
    Schuppen?«
    Er starrte sie an. In seinen
    gefühllosen Augen konnte sie lesen, was er in ihren Augen sah: dass sie es wusste. Dass sie
    sein Geheimnis kannte.
    Er hatte jetzt keinen Zweifel
    mehr. Sie rannte los.

JULI 2008

MITTWOCH, 16. JULI
    Er sah die Frau zum ersten Mal, als er gerade die
    Friarage School verlassen und über die Straße zurück zu seiner Unterkunft gehen wollte. Sie
    stand in der geöffneten Tür und zögerte ganz offensichtlich, einen Fuß hinaus in den strömenden
    Regen zu setzen. Es war kurz vor sechs Uhr und bereits ungewöhnlich dunkel draußen für einen
    frühen Sommerabend. Der Tag war drückend heiß gewesen, dann hatte sich ein krachendes Gewitter
    über Scarborough entladen, und nun schien die Welt in einem Wolkenbruch unterzugehen. Der
    Schulhof lag verlassen. In den Unebenheiten des Asphalts bildeten sich sofort riesige Pfützen.
    Der Himmel bestand aus wütend geballten, blauschwarzen Wolken.
    Die Frau trug ein wadenlanges, geblümtes
    Sommerkleid, etwas altmodisch, aber passend zu dem Tag, wie er gewesen war, ehe das Unwetter
    eingesetzt hatte. Sie hatte lange dunkelblonde Haare, die sie zu einem Zopf geflochten trug,
    und hielt eine Art Einkaufstasche in der Hand. Seiner Ansieht nach gehörte sie nicht zum
    Lehrpersonal der Schule. Vielleicht war sie neu. Oder eine Kursteilnehmerin.
    Irgendetwas reizte ihn, näher zu treten und zu
    überlegen, ob er sie ansprechen sollte. Wahrscheinlich war es das ungewöhnlich Altmodische in
    ihrer Erscheinung. Er schätzte sie auf Anfang zwanzig, und sie sah vollkommen anders aus als
    andere Frauen dieses Alters. Es war nicht so, dass man sich als Mann elektrisiert gefühlt hätte
    bei ihrem Anblick, aber man blieb irgendwie hängen. Man wollte wissen, wie ihr Gesicht aussah.
    Wie sie sprach. Ob sie wirklich einen Gegenentwurf zu ihrer Zeit und ihrer Generation
    darstellte. Er jedenfalls wollte das wissen. Frauen faszinierten ihn sehr, und nachdem er
    nahezu jeden Typ kannte, faszinierten ihn besonders die ungewöhnlichen.
    Er trat an sie heran und sagte: »Sie haben keinen
    Schirm?«
    Nicht dass er sich in diesem Moment sehr
    originell vorgekommen wäre. Aber angesichts des sintflutartigen Regens draußen drängte

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