Das andere Kind
fünfhundert weitere Fotos
gefunden. Das war alles.
Nicht genug für eine Mordanklage, dachte Valerie.
Es dämmerte draußen. Der Tag neigte sich dem Ende zu. Der Regen ließ nach.
Vier Beamte hatten in Gibsons Wohnung das Unterste zuoberst gekehrt. Ohne
zu einem durchschlagenden Ergebnis zu kommen. Valerie ertappte sich bei dem Wunsch, vor lauter
Frustration loszuheulen. Dave Tanner hatte sie heute von der Liste der Verdächtigen streichen
müssen. Und nun sah es so aus, als könne sie sich auch gleich von dem nächsten Anwärter auf den
Ti tel des Hauptverdächtigen verab schieden. Noch bevor er den Platz überhaupt richtig hatte einnehmen
können.
»Für eine Mordanklage reicht das alles nicht einmal annähernd«, meinte sie mutlos.
Reek konnte ihr nicht widersprechen. »Nicht mal für einen Haftbefehl, wenn Sie mich fragen«,
sagte er.
Sie winkte ab. »Haftbefehl! Wenn ich dem Richter damit komme, fliege ich
gleich bei ihm raus! Der wird sich ohnehin ärgern, dass er sich den
Durchsuchungsbeschluss hat abschwatzen lassen.«
»Wir müssen Gibson vernehmen. Unsere Karten sind nicht allzu gut, aber es ist ja nicht so, dass
wir überhaupt keine Karten hätten. Er hat eine Frau verfolgt und in ihrer Intimsphäre verletzt,
die dann in einem nächtlichen Park auf besonders brutale Weise ermordet wurde. Er muss uns
schon ein paar Erklärungen abgeben!«
Valerie machte ein grimmiges Gesicht. »Zum Beispiel werde ich auch von ihm wissen wollen, wo er
in der Nacht vom vergangenen Samstag auf den Sonntag war. Als Fiona Barnes erschlagen
wurde.«
Sie hörte ein Auflachen hinter sich und wandte sich um. Auch Reek blickte zur Tür. Der Mann,
der dort aufgetaucht war, ein jugendlich wirkender Typ in Jeans und Turnschuhen, konnte nur der
Mieter der Wohnung sein. Stan Gibson.
»Das kann ich Ihnen sagen«, meinte er. Er lächelte freundlich, was
angesichts der Unordnung, die in seinem Wohnzimmer herrschte, und der Polizisten, die darin
herumstanden, äußerst befremdlich schien. »Ich war in London. Von Samstagvormittag bis zum
späten Sonntagnachmittag. Bei meinen Eltern. Zusammen mit meiner Freundin Ena Witty. Ich habe
sie mi teinander bekannt gemacht. So wohl
meine Eltern als auch Miss Witty können das bestätigen.«
Valerie brauchte eine Sekunde, um sich von ihrer Überraschung, ihrem Erschrecken und von dem
Staunen über die Absurdität des Moments zu erholen. Dann tat sie drei Schritte auf den Fremden
zu.
»Stan Gibson, nehme ich an?«, fragte sie mit scharfer Stimme. »Können Sie
sich ausweisen?« Er fingerte in seinen Jeanstaschen herum. Fand seine Brieftasche, zog seinen
Ausweis hervor und hielt i hn Valerie vor
die Nase. »Zufrieden?« Er lächelte noch immer. »Und ... äh ... M'am, können Sie sich ausweisen?«
Sie zückte ihren Ausweis und wedelte zugleich mit dem Durchsuchungsbeschluss. »Detective
Inspector Valerie Almond. Und dies hier ist die richterliche Genehmigung, uns in Ihrer Wohnung
umzusehen.«
»Verstehe. Der Hausmeister sagte mir unten schon, dass er für ein paar Beamte von der Polizei
meine Wohnung hat aufschließen müssen. Es wäre nett, wenn Sie mir erklärten ... «
»Gern. Dazu würde ich Sie jedoch bitten, mich auf das Revier zu begleiten. Wir werden uns
länger unterhalten müssen. Über Miss Amy Mills. Über ihre Ermordung.«
»Bin ich verhaftet, Inspector?«
»Es geht lediglich um ein Gespräch«, erwiderte Valerie höflich, während sie innerlich fauchte:
Aber gern, du Arsch! Du glaubst nicht, wie gern ich dich jetzt sofort festsetzen würde, mitsamt
deinem widerlichen Dauergrinsen!
Der Typ war eindeutig nicht normal. Wer nach Hause kam und seine Wohnung von Polizisten auf den
Kopf gestellt sah, lächelte nicht derart penetrant. Jedenfalls nicht, wenn er unschuldig war.
Stan Gibson hatte jede Menge Dreck am Stecken, davon war sie überzeugt, und er strahlte wie ein
Honigkuchenpferd, weil er sich in völliger Sicherheit wiegte. Die Situation amüsierte ihn. Er
hatte Lust auf ein Spielchen mit der Polizei.
Sieh dich bloß vor, dachte sie.
»Sie können einen Anwalt hinzuziehen«, wies sie ihn widerwillig auf seine Rechte hin, aber
Gibson schüttelte nach einem Moment schlecht gespielten Nachdenkens den Kopf. »Nein. Wozu? Ich
brauche keinen Anwalt. Kommen Sie, Inspector. Gehen wir!«
Er schaute sie an, als habe er sie gerade auf ein Bier eingeladen. Fröhlich.
Kumpelhaft.
Lass dich nicht aus der Ruhe bringen, ermahnte sie sich,
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