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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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während sie mit ihm und Sergeant Reek
    die Treppen hinunterging, das ist es, was er will, und das wird ihm nicht gelingen. Er soll
    sich bloß warm anziehen. Das Grinsen wird ihm vergehen.
    Sie hatte immer von sich behauptet, sie habe eine Nase für Psychopathen.
    Sie hätte jede Wette gehalten, dass sie soeben einen vor sich hatte. Einen Psychopathen der
    übelsten Sorte.
    Einen, der herausragend intelligent war.
    Es dauerte lange, sehr lange, bis ich die Beckett-Farm wiedersah. Den Rest des Krieges und
    sogar noch ein Jahr länger. Der Grund war meine Mutter. Sie war als veränderter Mensch aus dem
    Krankenhaus zurückgekehrt, und sie wurde nie wieder die Alte. Ich hatte sie als eine
    energische, resolute Frau gekannt, manchmal etwas hart und schroff, aber auch fröhlich und
    zuversichtlich. Eine, die das Leben auf die Hörner nahm, wie man immer sagt. Aber nachdem sie
    dieses Kind verloren hatte, den Sohn, den sich Harold so brennend gewünscht hatte, waren ihr
    Optimismus und ihre vorwärtsgewandte Art verschwunden. Sie sah nicht nur schlecht aus, grau und
    dünn, sie wirkte auch verzagt, deprimiert und sehr unglücklich. Sie brach oft in Tränen aus,
    ohne dass es einen erkennbaren Anlass gegeben hätte. Stundenlang saß sie einfach nur am Fenster
    und starrte hinaus. Alles und jedes bedrückte sie über die Maßen, der Krieg, die zerbombte
    Stadt, die schlecht gekleideten Menschen, die rationierten Lebensmittel. Das war deshalb so
    erschütternd, weil sie früher ein Mensch gewesen war, der sich gerade nicht von derartigen
    Widrigkeiten erschüttern ließ.
    »Könnte alles schlimmer sein«, pflegte sie davor zu sagen.
    Danach sagte sie: »So schlimm wie jetzt war das
    Leben noch nie!«
    Dabei zeichnete sich immer mehr Hoffnung ab. Den Deutschen ging die Puste aus. Sie würden den
    Krieg verlieren, davon waren inzwischen selbst die größten Pessimisten - außer meiner Mutter -
    überzeugt. Jeder wunderte sich nur, weshalb sie immer noch weitermachten.
    Das Schicksal der Nazis besiegelte sich endgültig am 6. Juni 1944, am sogenannten D-Day, dem
    Tag, an dem die westlichen Alliierten das Unternehmen Overlord begannen und die Streitkräfte
    vieler Nationen zu Tausenden an den langen Stränden der Normandie landeten.
    Frankreich würde bald befreit sein, das sagten alle, und dann würde es Schlag auf Schlag gehen.
    Von Osten her schob sich eine gewaltige russische Armee in Richtung der deutschen Grenzen. Wenn
    man 88e hörte, fragte man sich wirklich, weshalb Hitler nicht sofort die Kapitulation
    anordnete.
    Stattdessen verheizte er seine Streitkräfte, offenbar entschlossen, nicht aufzugeben, solange
    es auch nur einen einzigen Soldaten in seinem Heer gab, dessen Kopf noch auf den Schultern
    saß.
    »Ein Verrückter«, sagte Harold oft, »ein total Verrückter!« Harold hatte
    eigentlich keine Ahnung von Politik, aber was seine Einschätzung Hitlers betraf, gab ich ihm
    recht. Es bedurfte allerdings auch keiner besonderen Intelligenz, den Wahnsinn des Führers zu erkennen.
    Während also alle auf das Ende des Krieges warteten und hoffnungsvoll Pläne für die Zeit danach
    schmiedeten, ließ sich meine Mutter zu nicht einem einzigen positiven Gedanken
    hinreißen.
    »Ja, vielleicht ist der Krieg bald vorbei«, räumte sie schließlich immerhin
    ein, »aber wer weiß , was dann kommt? Viel leicht wird alles nur noch schlimmer. Vielleicht passieren nur noch furchtbare Dinge,
    und irgendwann sagen wir, dass sogar die Bomben von 1940 nicht so schrecklich waren wie alles,
    was danach kam! «
    Angesichts ihrer schweren Depressionen hatte ich den Kampf darum, nach
    Yorkshire zurückkehren zu dürfen, völlig aufgegeben, zumindest weit hintenangestellt. Selbst
    als die Nazis als Reaktion auf Overlord in einer Art letztem Aufbäumen London erneut heftig zu bombardieren begannen, diesmal
    mit ihrer berüchtigten V2-Rakete, zog ich es nicht für eine Sekunde in Erwägung, abermals die
    Flucht anzutreten. Es war klar, dass Mum mich brauchte, mich, das Kind, das ihr geblieben war.
    Ich durfte sie nicht im Stich lassen, sie klammerte sich geradezu an mich, wurde schon nervös,
    wenn ich eine halbe Stunde verspätet aus der Schule kam oder mich beim Einkaufen vertrödelte.
    Ich akzeptierte ihren Zustand, nicht gerade glücklich, aber was blieb mir
    übrig?
    Von Chad hätte ich in Staintondale sowieso nichts gehabt, nun, da er an der Front war. Unser
    Briefkontakt war völlig eingeschlafen, ich hatte keine Anschrift, an die ich

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