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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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Vorhafen geführt. Sie
    konnten hinausblicken auf das freie Meer. Weiter unter ihnen schwappte flaches Wasser über
    einen schmalen Streifen Sand. Leslie löste sich von Stephens Arm, lehnte sich gegen die
    Kaimauer. In der Ferne verschmolzen Wasser und Himmel, ein Anblick, den sie als beruhigend
    empfand, ohne dass sie hätte sagen können, weshalb das so war. Vielleicht war es einfach das
    schönere Bild, schöner als das der Kräne und stählernen Lagerhallen.
    »Ich denke,
    dass das Drama um Brian Somerville wie ein Gift gewesen ist, das in der Familie Beckett
    wirkte«, sagte Leslie, »und auch in meiner Familie. Eine Tat, die so rücksichtslos verdrängt
    wird, eine so unaufgearbeitete Schuld versickert nicht einfach, nur weil man sie totschweigt.
    Sie hat schon allein dadurch ihre Wirkung gezeigt, dass sie ein wirkliches Zusammenkommen von
    Chad und Fiona verhindert hat. Damit andere unglückliche Partnerwahlen provoziert hat. Und so
    fortgewirkt hat in Kindern und Enkeln, die alle in dieser Unstimmigkeit lebten - an deren
    Anfang zwei Menschen standen, die blockiert waren füreinander und doch nicht frei wurden. Fiona
    hat Chads Leben immer besetzt gehalten, und wir alle haben deswegen gelitten. Chads Frau, die
    so früh Krebs bekam. Meine Mutter, die in der Drogensucht landete. Ich, die ich bei meinen
    Großeltern aufwachsen musste. Und Gwen ... Gwen vielleicht am meisten. Mit diesem
    verschlossenen Vater. Und der zudringlichen Fiona. Sie musste jahrzehntelang die Frau auf der
    Farm dulden, die sie zunächst intuitiv und später auch ganz bewusst für den Tod ihrer Mutter
    verantwortlich machte. Von so etwas kann man krank werden.«
    »Ja«, sagte
    Stephen, »wahrscheinlich. Aber ... wir ändern es nicht mehr. Wir müssen sehen, wie wir jetzt
    weitermachen.«
    »Was wird
    wohl aus der Farm?« »Die wird sicher verkauft. Chad ist tot, Gwen wird für lange Zeit hinter
    Gittern landen, wenn nicht für immer.«
    Leslie sah
    ihn an. »Vielleicht, wenn sich keiner eingemischt hätte«, sagte sie, »dann hätten Gwen und Dave
    geheiratet. Dave hätte ein Juwel aus der Farm gemacht. Und Gwen hätte sich vielleicht mit dem
    Leben versöhnt. Wenn ... «
    »Leslie«,
    unterbrach Stephen sanft, »sie ist krank. Sie war schon lange krank. Ihr Leben steuerte seit
    Jahren auf eine Tragödie zu. So oder so wäre etwas Schlimmes passiert. Nichts und niemand hätte
    das verhindern können. Davon bin ich überzeugt.«
    Sie wusste,
    dass er recht hatte. Und mit dieser Erkenntnis schien die Anspannung, die sie nach Whitby
    getragen hatte, in sich zusammenzufallen. Plötzlich war sie sehr müde. Ihre Augen schmerzten.
    Es lag nicht nur am fehlenden Schlaf der vergangenen Nacht. Sie war müde von allem, was
    geschehen war. Während der letzten Woche. Und während der letzten Jahre ihres Lebens. In denen
    sich alles geändert hatte.
    Als ahnte er,
    wohin ihre Gedanken gingen, fragte Stephen plötzlich mit leiser Stimme: »Und wir? Was wird aus
    uns?«
    Sie hatte
    diese Frage gefürchtet, seit sie ihn neben ihrem Auto hatte stehen sehen. Und war dennoch
    erleichtert gewesen, dass er da war. Er kannte sie. Er hatte geahnt, dass sie Brian Somerville
    aufsuchen würde, und er hatte gewusst, dass es ihr danach nicht gut gehen würde. So war er, und
    sie hoffte, dass er das immer sein würde: ein Freund, der wusste, wie es ihr ums Herz war. Ein
    Freund, der sie in die Arme nahm und ihr seine Schulter zum Ausweinen bot.
    Ein Freund,
    der mit ihr redete, wenn sie das brauchte, und der mit ihr schwieg, wenn sie sich nur wortlos
    verständigen konnte.
    Aber mehr als
    das nicht. Nie mehr als ein Freund.
    Sie schaute
    ihn an, und er sah in ihren Augen, was sie dachte. Sie konnte das an dem Kummer erkennen, der
    sein Gesicht verdunkelte.
    »Ja«, sagte
    er, »ich habe das geahnt. Nein, gewusst. Es war nur noch ... ein Funken Hoffnung.«
    »Es tut mir
    leid«, sagte Leslie.
    Eine Weile
    wusste keiner von beiden etwas zu sagen, dann brach Stephen das Schweigen. »Komm«, bat er,
    »lass uns irgendwo einen heißen Tee trinken. Wenn wir hier noch lange herumstehen, werden wir
    uns erkälten.«
    »Gleich neben
    dem Heim ist ein Teesalon«, sagte Leslie, und dann wurde sie auf einmal fast überwältigt von
    dem Gedanken, dorthin zurückzugehen, zu dem Heim, in dem Brian Somerville seinem Ende
    entgegendämmerte und Tag für Tag über den Hafen blicken musste; zu dem Heim, in dem er auf eine
    Frau wartete, die ihm vor fünfundsechzig Jahren

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