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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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sicheren Leben war
    nichts geblieben. Die Alliierten hatten den Sieg über Hitlers Deutschland davongetragen, dieses
    Wissen blieb Männern wie Chad und gab alldem, was sie hatten ertragen müssen, einen Sinn. Dies
    änderte jedoch nichts an den Bildern, die sie zeitlebens in sich tragen würden. Es änderte
    nichts an der schonungslosen Härte, mit der sie von einem Tag zum anderen mit einer Seite des
    Lebens konfrontiert worden waren, die sich keiner von ihnen vorher hätte ausmalen
    können.
    Übrigens hat Chad sich nie, damals nicht und auch nicht in all der Zeit danach, bei mir über
    seine Erlebnisse im Krieg geäußert. Einmal, nach Jahren, entdeckte ich in einem Regal in seinem
    Arbeitszimmer auf der Beckett-Farm einen Revolver, der zwischen ein paar Aktenordnern lag. Auf
    meine Frage hin antwortete er: »Meine Waffe. Aus dem Krieg.«
    »Warum hebst du sie auf?«
    »Nur so. Vielleicht kommt ja mal ein Einbrecher.«
    Ich nahm sie in die Hände. »Sie ist ganz schön schwer«, stellte ich fest.
    »Leg sie zurück!«, herrschte er mich an. »Ich will mit alldem nichts mehr zu tun
    haben!«
    Ich hatte begriffen und erwähnte weder seine Waffe jemals wieder, noch wagte ich es, ihm Fragen
    zu jenem traumatischen Abschnitt seines Lebens zu stellen.
    Jetzt sagte er: »Tut mir leid. Ich hätte mich melden sollen. Es war alles ... « - er machte
    eine ausufernde Handbewegung -, »es war alles zu viel.«
    »Wie geht es deinem Vater?«
    »Er kommt nicht mehr klar. Macht fast nichts auf dem Hof. Sitzt im Haus und starrt die Wände
    an. Er konnte den Tod meiner Mutter nie verwinden.«
    Ich war nicht überrascht. Intuitiv hatte ich schon als elfjähriges Mädchen damals begriffen,
    dass Emma die Seele der Beckett-Farm war, dass sie, weit mehr als ihr Mann, den Ansporn gab,
    das Leben anzupacken und zu meistern. Ohne sie war Arvid zu einer leeren Hülle geworden. Es
    passte zu dem Bild, das ich immer von ihm gehabt hatte.
    »Ich versuche mein Bestes«, sagte Chad, »aber es ist schwierig, eine Farm in Schwung zu
    bringen, die total heruntergewirtschaftet ist. In diesen Zeiten ... «
    Er musterte mich eindringlich. »Du bist eine richtige junge Frau geworden«, sagte er,
    übergangslos das Thema wechselnd, und ich merkte, wie ich rot wurde.
    »Ich bin fertig mit der Schule«, sagte ich, »und ich weiß nicht recht, wie es weitergehen soll.
    Meine Mutter meint, ich brauche Abstand zu meinem Alltag in London. Deshalb bin ich hier. Ich
    würde gern eine Zeitlang bleiben ... wenn ich darf.«
    »Sicher. Wir können jede Arbeitskraft brauchen«, sagte Chad und grinste.
    Er meinte es nicht so. Ich lächelte.
    Und plötzlich, von einem Moment zum anderen, war er wieder der Chad, den
    ich kannte, der Junge, der meine ersten schwärmerischen Gefühle so zärtlich erwidert hatte. Er
    breitete seine Arme aus, und ich l ieß
    mich in die Geborgenheit fallen, die er mir zu vermitteln schien, die er mir an jenem Abend am
    Strand wohl auch wirklich schenkte, die sich aber später als trügerisch erweisen sollte. Er war
    bereits dabei, ob verursacht durch den Krieg oder durch das Vorbild seines in sich
    abgekapselten Vaters, zu dem wortkargen, verschlossenen Mann zu werden, den schließlich eine
    völlige Unfähigkeit, Gef ühle zu zeigen, kennzeichnete. Dass diese Entwicklung schon begonnen hatte, wusste ich damals nicht, ich
    wäre wohl auch zu jung gewesen, sie wirklich zu begreifen, und außerdem war ich viel zu
    verliebt und glückselig in jenem Moment, um über den Augenblick hinauszudenken. Die Bitterkeit
    und Schwere der vergangenen Jahre löste sich in nichts auf. London, der Krieg, meine depressive
    Mutter, Harold, alles war plötzlich ganz weit weg und nicht mehr wichtig. Ich war endlich
    angekommen. An dem Ort, an den ich gehörte. Bei dem Mann, den ich liebte.
    So weit meine romantischen Gedanken jener Stunde am immer dunkler werdenden Strand. Bald brach
    die Nacht herein, und das Rauschen des Meeres veränderte seinen Klang mit der Ebbe, die es
    weiter und weiter zurücksog. Der Himmel war sternenklar. Augustnächte haben eine besondere
    Magie. Vielleicht fiel sogar die eine oder andere Sternschnuppe ins Meer, wer weiß, ich bildete
    mir jedenfalls hinterher ein, dass es so gewesen sein musste. Hinterher - nachdem wir uns dort,
    in der steinigen Bucht von Staintondale, zum ersten Mal geliebt hatten.
    Es klingt kitschig, wie ich natürlich zugeben muss. Eine warme Sommernacht,
    Sterne, Meeresrauschen. Zwei junge Menschen. Erste

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