Das andere Kind
dort war.
Der Sommerabend bot die bestmögliche Kulisse für die Farm - anders, als es
ein verregneter Wintertag getan hätte -, aber dennoch war ich entsetzt, wie weit der Verfall vorange schritten war. Das Hoftor war
aus den Angeln gebrochen und konnte offenbar nicht mehr geschlossen werden, ein Zustand, der
übrigens bis heute beibehalten wurde, und es hat mich stets gewundert, dass über ein halbes
Jahrhundert lang niemand genug Energie und Entschlusskraft aufgebracht hat, sich dieses
Problems anzunehmen.
Schrottreife Geräte aller Art standen über den Hof verteilt, dazwischen pickten die Hühner, die
früher ein ordentlich abgetrenntes Gehege gehabt hatten, herum. Die Weidezäune der Schafe
hätten dringend repariert werden müssen, und auch aus den Mauern waren teilweise so viele
Steine herausgebrochen, dass die Tiere bequem darüberklettern konnten. Das Haus sah düster und
fast unbewohnt aus. Unkraut wucherte bis zur Haustür. Die Bank, auf der Emma so gern in der
Abendsonne gesessen hatte, gab es nicht mehr, sie war vermutlich zu Feuerholz verarbeitet
worden. Die Fenster starrten vor Dreck. Unwahrscheinlich, dass man noch viel von der herrlichen
Landschaft erkennen konnte, wenn man hinausschaute.
Aber die Luft, sie roch wie immer, und das Meer würde so sein, wie es gewesen war, und die
Bucht und das besondere Licht, das dort am Abend herrschte.
Der Gedanke an die Bucht ließ einen Entschluss in mir reifen. Auf einmal wusste ich, wohin mein
allererster Weg mich führen sollte.
Meinen Rucksack stellte ich neben der Haustür in die Brennnesseln, dann machte ich mich,
befreit von der Bürde, leichtfüßig auf den Weg.
Ich sah Chad sofort, nachdem ich durch die Dunkelheit der Schlucht getaucht
war und in das Dämmerlicht des Strandes trat. Die Sonne war hinter den Klippen verschwunden,
und das Meer war von einem undurchsichtigen Nachtblau. Die Bucht, sonst so weit, war nur ein schmaler Streifen, aber der Höhepunkt der Flut war bereits
vorüber, das Wasser wieder langsam im Rückzug begriffen.
Chad saß auf einem Felsen, das Gesicht in die Hände gestützt. Ich trat
langsam näher. »Guten Abend, Chad«, sagte ich schließlich. Er zuckte zusammen, blickte hoch und
sprang dann auf. Er sah völlig perplex drein.
»Fiona! Wo kommst du denn her?«
»Aus London.«
»Was ... ich meine ... einfach so?« Es klang nicht so herzlich, wie ich es
mir gewünscht hätte, aber eigentlich auch nicht unfreundlich. Er war einfach vollkommen
überrascht. »Du hast jedenfalls den Krieg überlebt«, sagte ich, nicht besonders geistreich, und
fügte dann hinzu: »Man kann ja nicht behaupten, dass ich diesen erfreulichen Umstand deiner
regen Korrespondenz mit mir hätte entnehmen können!« Er fuhr sich verlegen durch die Haare,
eine Geste, die mich an den fünfzehnjährigen Jungen erinnerte, als den ich ihn kennen gelernt
hatte und von dem er sich - ich erkannte es sogar im rapide schwindenden Licht des Abends -
weit entfernt hatte. Er war jetzt einundzwanzig Jahre alt, und er hatte sich vollkommen
verändert. Ich hätte in diesem Moment noch nicht in Worte fassen können, worin diese
Veränderung genau bestand, außer darin, dass er natürlich vier Jahre älter war als zum
Zeitpunkt unseres letzten Beisammenseins, aber das wäre ja zu erwarten gewesen. Ich glaube, was
mich so frappierte, war die Tatsache, dass er so viel stärker gealtert war, als man hätte
meinen können. Es ging dabei nicht um Runzeln und Falten, sondern um den Ausdruck in seinem
Gesicht, um seine Ausstrahlung. Er wirkte nicht wie ein Einundzwanzigjähriger. Er hätte auch
dr eißig oder vierzig sein können.
Erst bei genauerem Nachdenken in den Wochen danach wurde mir klar, dass der Krieg der
Zeitraffer gewesen war. Diese Männer, die noch halbe Kinder gewesen waren, als sie sich an die
Front gemeldet hatten, beseelt von patriotischem Eifer und befangen in einer meist naiven
Einschätzung dessen, was sie dort erwartete, hatten innerhalb weniger Monate mehr und Härteres
erlebt als andere während eines ganzen Lebens. Sie hatten ihre Kameraden fallen sehen, hatten
die Möglichkeit des eigenen Todes beständig vor Augen gehabt, hatten getötet, um nicht getötet
zu werden. Sie hatten in eiskalten, nassen Schützengräben ausgeharrt, hatten
nervenzerreißendes, Stunden dauerndes Geschützfeuer ertragen, hatten die gellenden Schreie der
Verwundeten hören müssen. Von ihrem bis dahin oft sorglosen, zumindest
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