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Das andere Ufer der Nacht

Das andere Ufer der Nacht

Titel: Das andere Ufer der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jason Dark
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wirkte in ihrer sitzenden Haltung und mit übereinandergeschlagenen Beinen überheblich. Die Frau konnte hier diktieren. Alles unter und über der Erde gehörte ihr, und die Menschen achteten auf ihre Kommandos. Womit konnte man einen Menschen erpressen? Mit anderen Menschen, die man in eine Zwangslage gebracht hatte. Das war meiner Ansicht nach die einzige Möglichkeit. Ich dachte automatisch an meine beiden Freunde Bill und Suko. Von ihnen hatte ich weder etwas gehört noch gesehen. Wir wollten getrennt marschieren, aber vereint zuschlagen. Ich hatte es geschafft, was aber nicht bedeutete, dass Bill und Suko das gleiche gelungen war.
    »Fällt dir nichts ein?« Ihre spöttisch klingende Stimme unterbrach meine Gedanken. »Oder reicht dein Geist nicht, um Zusammenhänge zu erkennen?« fügte sie noch hinzu.
    Ich hob die Schultern. »So wird es wohl sein.«
    Sie schüttelte heftig den Kopf. »Spiel mir hier kein Theater vor. Stell deine Fragen.«
    »Ja, ja, sicher. Wahrscheinlich brennen Sie darauf, sie mir beantworten zu können.«
    »Das stimmt.«
    »Und weshalb diese Eile?«
    »Weil ich dir die Aussichtslosigkeit deiner Lage vor Augen führen will und du einsiehst, dass dir keine andere Chance bleibt.«
    »Gut.« Ich gab mich gelassener, als ich es war und zündete mir eine Zigarette an. Die ganze Szene wirkte irgendwie absurd, es war kaum zu glauben.
    Da saß ich mit einer älteren Frau in einem Felsgewölbe unter einer gewaltigen Burg aus dem Mittelalter und speiste, während hinter mir ein Toter lag und nicht weit davon entfernt ein zweiter, der die Reise über den Fluss nicht mehr geschafft hatte. Das Leben hielt in der Tat oft genug sehr makabre Überraschungen für mich bereit.
    »Bewohnen Sie die Burg allein?«
    »Ja, ich bin die letzte Marquez in der langen Kette unseres Geschlechts.« Sie beugte sich vor. »Hast du noch nie von der Marquez gehört, Sinclair?«
    »Nein.«
    »Kennst du König Philipp den Zweiten?«
    »Den ja. Er war ein Tyrann. Man bezeichnet ihn als den Vater der Inquisition.«
    Sie nickte heftig. »Das stimmt sogar. Er ist es gewesen, aber die Bücher haben uns vergessen, denn unsere Familie war ebenso daran beteiligt. Wir stellten dem König unsere Burg zur Verfügung. Hinter ihren Mauern und vor allen Dingen in diesem unterirdischen Gewölben wurden die Befragungen durchgeführt: wenn die Steine reden könnten, würden sie von Blut, Tränen und Schreien erzählen, aber das ist nicht möglich. Niemand draußen hörte die Schreie. Was hier getan wurde, blieb verborgen, und unsere Familie wurde immer reicher.«
    »Bis der König starb«, unterbrach ich sie lässig. »Mit seinem Tod war auch für Spanien das Mittelalter vorbei.«
    »So sagt man, nur nicht für uns.«
    »Folterten Ihre Ahnen weiter?«
    »Noch einige Jahre, da es weiterhin Menschen gab, die sehr reich waren, aber nicht so glaubten, wie wir es wollten. Leider traf uns die Strafe über hundert Jahre später. Es waren die Geister der Toten, die sich meldeten. Furchtbar.«
    Die Stimme der Frau bekam einen anderen Klang. Sie artete in ein rauhes Flüstern aus, blieb aber trotzdem noch verständlich. »Die Toten verfolgten meine Vorfahren im Traum. In den Höhlen hier lagerten die Knochen. Das Blut wurde von dem unterirdisch fließenden Fluss weggeschwemmt. An manchen Tagen war das Wasser rot gewesen, und dieser Fluss wurde von den Geistern der Toten zu einer Grenze markiert, bevor sie sich die Bestrafung für uns ausdachten. Jeder Nachkomme war gezwungen, eine Barke zu bauen, mit der er den Fluss überqueren konnte. Aber die Barke musste aus den Knochen der von uns Getöteten bestehen, das war unserem Geschlecht als Strafe auferlegt worden. Und wir mussten Menschen finden, die über den Fluss fuhren, damit sie das andere Ufer der Nacht erreichten und von den Kräften dort empfangen werden konnten.«
    »Nur empfangen?« fragte ich.
    »Nein, auch getötet. Wenn unsere Familie niemand fand, waren es wir Frauen, die das Schicksal in die Hand nahmen und die eigenen Ehemänner nach drüben schickten.«
    »Haben Sie es auch getan?«
    »Was blieb mir anderes übrig?«
    Sie gab den Mord zu, denn nichts anderes war diese makabre Flussfahrt. Ich schluckte meinen Ärger runter und trat die Zigarette aus, von der ich kaum zwei Züge genommen hatte. »Dann wäre also mit Ihnen die Strafe beendet?«
    Plötzlich kicherte sie. »Nein, das ist eben der große Irrtum. Es geht weiter, immer weiter.«
    »Haben Sie Nachkommen?«
    »Eine Tochter. Sie

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