Das andere Ufer der Nacht
heißt Viviana.«
Das war mir neu. Dann musste die Frau, bevor sie ihren Mann in den Tod geschickt hatte, mit ihm noch ein Kind gezeugt haben. Eine verdammte Sache, brutal und unmenschlich, da sie ja wusste, was mit ihm geschehen würde.
Bisher hatte ich für sie noch so etwas wie Verständnis aufgebracht, wenigstens auf gewissen Gebieten, das war nun endgültig vorbei. Wer so etwas tat, handelte unmenschlich!
»Kennst du meine Tochter?«
»Nein.«
»Oh, da hast du etwas versäumt. Sie ist eine sehr hübsche Person, die war ich in meiner Jugend auch. Im Dorf ist sie angesehen; viele junge Männer sind hinter ihr her und haben bei ihr zu landen versucht, aber keinem ist es gelungen…«
»Ist sie denn eingeweiht?« erkundigte ich mich.
»Und ob. Viviana steht voll und ganz auf meiner Seite, das kann ich dir versprechen.«
»Ich wundere mich darüber. Sie muss doch anders denken, viel moderner, sie kann sich nicht…«
»Hör auf, Sinclair! Viviana weiß genau, welches Erbe sie mitzutragen hat. Und sie wird sich irgendwann einen Mann suchen, ihn heiraten, ein Kind von ihm bekommen und ihn danach ebenfalls an das andere Ufer der Nacht schicken, wo die Geister der Getöteten und Gequälten warten, um sich an ihm rächen zu können.«
»An mir auch?«
»Ja, auch an dir.«
»Nur habe ich mit eurer Familie nichts zu tun gehabt.«
»Nein.« Sie lachte kalt auf. »Das weiß ich selbst, aber wissen es die anderen?«
Das war die Frage. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass sie genau unterschieden. Andererseits musste man erst einmal abwarten, wobei ich mich noch immer fragte, ob ich über den Fuß fahren wollte. »Ich könnte mich auch weigern!«
Senora Marquez blickte mich an. Es war ein Blick des Vorwurfs, gepaart mit ein wenig Mitleid. »Hast du daran tatsächlich gedacht?« fragte sie leise.
»Im Prinzip schon.«
»Das wird dir nicht gelingen. Niemals! Du musst einfach meinen Wünschen nachkommen.«
»Ich sehe es anders.«
Sie stöhnte auf und warf dabei ihr Zigarillo weg. »Du hast meine beiden Leibwächter ausschalten können oder bist ihnen entwischt, aber ich sprach vorhin von einem Trumpf, der dich sicherlich überzeugen wird. Erinnere dich an meine Tochter. Ich sprach über sie und davon, dass sie auf meiner Seite steht. Du hast sie noch nicht gesehen, aber sie befindet sich nicht weit entfernt. Es gibt übrigens vier Männer in Santera, die sich für sie interessieren. Jedem der vier hat Viviana Hoffnungen auf eine Heirat gemacht, so dass sie ihr praktisch aus der Hand fressen. Sie tun alles, was sie will. Sie halten zu ihr und haben eine Clique gebildet. Diese vier und meine Tochter waren so freundlich, sich um deine beiden Gefährten zu kümmern. Anders ausgedrückt, der Chinese und auch dieser andere befinden sich als Geiseln in ihren Händen!«
Das hatte ich mir gedacht! Ich starrte die Frau schweigend an, die plötzlich lachen musste, als sie mein starres Gesicht sah.
»Ein guter Plan, nicht wahr?«
»Wenn er stimmt«, erwiderte ich mit lahmer Stimme.
»Darauf kannst du dich verlassen. Du wirst sie auch bald sehen können, ich verspreche es dir.«
»Und wo?«
Sie legte die Stirn in Falten und beugte sich vor. »Auch sie haben sich entschlossen, zum Fluss zu kommen. Sie werden dabei sein und beobachten, wie du deine Reise an das andere Ufer der Nacht antrittst. Unser Schicksal heißt Qual, und das, John Sinclair, sollst du mit uns teilen. Hast du mich verstanden?«
»Sehr gut sogar.«
Sie stand auf. Durch ihren Körper ging ein Ruck, und dann stemmte sie sich blitzschnell hoch. »Das war es, was ich dir erklären wollte. Jetzt steh auf und komm mit!«
Ich überlegte noch. Hatte es Sinn, sich gegen die drastisch ausgesprochenen Wünsche der Frau zu stellen? Eigentlich nicht, ich befand mich dabei immer in der schlechteren Position, weil ich bei all meinen Aktivitäten stets an Suko und Bill denken musste, die sich in den Händen meiner Gegner befanden. Da half es auch nichts, wenn ich den Versuch startete, die Frau vor mir zu überwältigen, das würde den anderen nur schaden.
Sie war an den Tisch getreten. Auch der Zwerg und der Mann mit der Eisenmaske hatten sich bewegt. Sie hielten sich jetzt hinter ihr auf und standen dort wie zwei stumme Figuren, die aus Ton oder Metall geformt zu sein schienen.
»Wollen Sie sich nicht erheben?« fragte sie scharf.
»Nur keine Hektik.«
»Du verkennst die Lage!« zischte sie böse. »Ich halte die Trümpfe in der Hand. Wenn wir am Ufer sind,
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