Das andere Ufer der Nacht
Viviana.
Bill wollte den Grund wissen. »Weshalb denn? Was haben wir euch getan, dass ihr so reagiert?«
»Uns noch nichts, nur haben wir es nicht gern, wenn man bei uns herumschnüffelt.«
»Dann habt ihr auch etwas zu verbergen.«
Viviana nickte. »Im Prinzip nicht, nur ist das, was hier geschieht, nicht für jeden zu verstehen.«
»Du kannst uns ja aufklären«, forderte Bill.
»Darüber denke ich nach. Jedenfalls werdet ihr eingespannt, bevor wir uns weiter mit euch beschäftigen. Ich bin dafür, dass ihr uns Kulidienste leistet.«
»Wie das?«
Viviana deutete auf den Knochenberg. »Die Barke ist noch nicht völlig fertiggestellt. Ihr werdet letzte Hand anlegen und die Knochen so schichten, wie es die alten Regeln vorschreiben.« Nach diesen Worten streckte sie beide Arme aus und präsentierte ihre Handflächen. »Noch etwas bekomme ich von euch. Die Waffen…«
Es hatte keinen Sinn, wenn sich die Männer weigerten. Viviana war lange genug mit ihnen zusammen gewesen, um genau zu wissen, dass sie bewaffnet waren. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Berettas aus den Halftern zu holen.
»Und sehr vorsichtig!«
Weder Bill noch Suko machten den Versuch einer missverständlichen Bewegung. Sie holten mit spitzen Fingern die Pistolen hervor und ließen sie zu Boden fallen.
»War das alles?« fragte das Mädchen.
»Ja.«
Viviana glaubte ihnen nicht. Ihr Finger zeigte auf den Inspektor. »In deinem Gürtel sehe ich einen Griff stecken. Er ragt schräg daraus hervor. Was ist das?«
Suko zog seine Peitsche. Die Riemen waren eingefahren, so sah sie aus wie ein Schlagstock. Damit rechnete auch das Mädchen. »Es ist wohl ein Totschläger. Wirf ihn ebenfalls weg.«
Suko hob die Schultern. Eine Sekunde später lag auch die Peitsche am Boden.
Viviana war zufrieden. Sie zog sich zurück, schlug im Rücken der Männer einen Bogen, damit sie ihnen nie in die Schusslinie geriet, hob die Waffen dann auf und ließ sie in den Taschen ihres langen Mantels verschwinden, die unergründlich schienen.
In den Gesichtern der Engländer rührte sich nichts. Natürlich ärgerten sie sich, dass sie ihre Waffen verloren hatten, nur wollten sie Viviana den Triumph nicht gönnen, es ihr auch zu zeigen. Deshalb blieben sie völlig ruhig.
»Eine Frage hätte ich noch«, sagte Bill.
»Ja?«
»Weshalb tust du das?«
Sie lächelte. »Weil ich es muss. Es ist die familiäre Bindung. Außerdem mache ich es wegen der Senora Marquez.«
»Ist sie etwas Besonderes?«
Viviana trat einen Schritt näher. Als sie stand, richtete sie sich auf, die Schultern bildeten praktisch einen Strich. Man merkte ihr an, wie stolz sie war. »Ja«, erklärte sie. »Die Senora ist etwas Besonderes für mich. Sie ist meine Mutter!«
***
Ich dachte an den Toten, der vor der Rutsche lag und auch daran, was mir widerfahren war. Deshalb war es für mich einfach unmöglich, mich an den Tisch zu setzen und zu essen. Mir wäre jeder Bissen wieder hochgekommen.
Das sah die Frau nicht so. Im plaudernden Gesprächston fuhr sie fort.
»Nehmen Sie ruhig Platz und stärken Sie sich, Fremder. Ich möchte es, Sie haben noch eine lange Reise vor sich.«
Ich räusperte mich. »Vielleicht will ich gar nicht.«
Da lachte sie. »Nein, nein, Sie müssen. Aber bitte, kommen Sie näher, ich will Sie besser sehen.«
Und ich wollte sie mir auch genau anschauen, deshalb kam mir ihr Wunsch nicht einmal so ungelegen.
Der Zwerg schwang noch immer seinen Morgenstern. Nicht nur mir fiel diese Bewegung auf die Nerven, auch die Frau mochte es nicht und zischte ihm einen scharfen Befehl zu. Sofort hörte er auf. Ich hatte inzwischen das Ende der langen Tafel erreicht und blieb dort stehen, beide Hände auf die Kante der hohen Rückenlehne gelegt. Über die mit kalten Speisen bedeckte Tischplatte schaute ich hinweg, und mein Blick traf die Gestalt der Frau.
Sie war altersmäßig schwer einzuschätzen. Ich wusste auch nicht, ob ihre Haut grau oder noch rosig aussah, jedenfalls hatte sie einen grünlichen Schein angenommen; wie auch die meine. Das Haar trug sie sehr kurz geschnitten, man konnte es schon als modern frisiert bezeichnen, und es sah manchmal so aus, als trüge sie eine Perücke. Die Senora besaß ein rundes Gesicht. Es wirkte ein wenig aufgequollen. Vielleicht war auch die Nase eine Idee zu dick, ebenso der Mund, den sie zu einem kalten Lächeln verzogen hatte.
Ein dunkles Kleid trug sie. Die Säume waren mit weißer Spitze abgesetzt, auch an den Ärmeln. In
Weitere Kostenlose Bücher