Das andere Ufer der Nacht
völlig normales junges Mädchen und nicht wie jemand, der dabei war, in den Tod zu schreiten. Ob sie mich überhaupt wahrgenommen hatte, konnte ich nicht sagen. Ich jedenfalls ging sehr leise hinter ihr her. Wir durchquerten den Gang und erreichten eine düstere Halle, die noch aus der Ritterzeit stammte, wo man auf großen Prunk an manchen Orten verzichtet hatte. Nur dunkle Mauern, an einigen Stellen sogar grünlich eingefärbt, über die das Licht einer einsam brennenden Fackel huschte. Ihr Schein fiel auch auf eine breite Bogentreppe, die in die nächste Etage der Burg führte. In diesem Trakt hatte ich mich noch nie aufgehalten, er musste zu den direkten Wohnräumen der Burgherrin führen. Das Mädchen schritt vor mir die Treppe hoch. Viviana drehte sich nicht ein einziges Mal um. Ich hielt einen etwas größeren Abstand, als wir in die Dunkelheit des Treppenhauses eintauchten, denn hier gab es kein Licht, und es konnten auch zahlreiche Gefahren lauern. Erst nach dem nächsten Absatz entdeckte ich wieder einen rötlichen Schein. Er flackerte dort auf, wo die nächste Stufenfolge zu Ende war. Wieder erreichten wir einen Gang, und noch immer waren weder das Mädchen noch ich angegriffen worden.
Der Gang war breit. Türen zweigten ab. Vor der dritten auf der rechten Seite blieb Viviana stehen. Auch ich verhielt meinen Schritt und ich presste mich in eine Nische, aus der ich hervorpeilte, als ich das Geräusch des Türöffnens hörte. Viviana verschwand in ihrem Zimmer. Mich hielt natürlich nichts mehr in der Deckung. Ich folgte ihr auf dem Fuße und kam gerade noch zurecht, bevor sie die Tür hinter sich schließen konnte.
Vorsichtig drückte ich sie auf und peilte in den Raum. Das Mädchen war schon einige Schritte in das Zimmer hineingegangen, in dem ein muffiger Geruch lag, der auch von einem süßlichen Parfümduft nicht völlig vertrieben werden konnte.
Ich konnte an ihr vorbeiblicken, es war nicht völlig dunkel im Raum, und ich sah, dass der Raum einen großen Erker besaß, dessen Mauerwerk von drei bis zum Boden reichenden Fenstern unterbrochen wurde. Im Erker stand das Bett. Breit, sehr alt, aus dunklem Holz, mit einem hohen Kopfteil, dessen Pfosten gedrechselt waren.
Sie schritt auf das Bett zu. Ein schmaler Schatten, der in den etwas helleren Schein geriet, denn durch die drei großen Fenster fiel das fahle Licht des Mondes, der sich von zahlreichen, prachtvoll funkelnden Sternen umgeben sah.
Ich schloss behutsam die Tür. In dieser düsteren Finsternis wollte ich nicht warten. Da es in der Burg keinen elektrischen Strom gab, hielt ich nach Kerzenleuchtern Ausschau. Es standen mehrere zur Auswahl. Sechs Kerzendochte zündete ich an. Die dazugehörigen beiden Leuchter standen so verteilt, dass sie den Großteil des Raumes in ein romantisches Licht tauchten und sich ihr Schein erst am Fußende des Bettes verlief.
Dort saß Viviana. Sie hatte sich schräg auf die Kante gesetzt und hielt die Beine zusammengepresst. Mit leerem Blick schaute sie gegen eines der drei Erkerfenster und reagierte auch nicht, als ich auf sie zukam. Erst als ich neben ihr meinen Platz fand und die Matratze eindrückte, wurde sie aufmerksam und drehte den Kopf. Stumm schauten wir uns an. Ich hielt ihre rechte Hand. »Keine Sorge, Viviana, ich bleibe hier.«
»Sie ist eine Mörderin!« flüsterte das Mädchen. »Sie hat einen Menschen getötet.«
Ich schüttelte den Kopf. »So einfach ist das nicht. Ich möchte deine Mutter zwar nicht unbedingt verteidigen, aber wir können davon ausgehen, dass sie nicht mehr die gleiche ist wie früher.«
»Wie meinst du das?«
»Sie muss sich einfach verändert haben. Oder hättest du ihr das zugetraut?«
»Vielleicht.« Sie atmete tief ein. »Ich weiß, dass sie es getan hat, und sie wird auch weitermorden. Ich fühle es. Ich fühle auch, dass sie zu mir kommen wird. Ich erwarte sie und den Tod…«
Die geflüsterten Worte hörten sich in der Umgebung gespenstisch an. Auch ich konnte eine Gänsehaut nicht vermeiden, aber ich stimmte ihr nicht zu. »Wenn du recht hast, Viviana, werde ich alles tun, damit es nicht dazu kommt.«
»Meine Mutter ist stärker.«
»Warten wir es ab.«
Viviana Marquez hatte mir nichts mehr zu sagen. Sie zog ihre Hand zurück, ließ sich zur Seite fallen und legte sich auf das Bett. Ihr Kopf sank in den Kissen ein. Sie konnte durch die Fenster in den gepunkteten Sternenhimmel sehen. Ein prächtiges Bild, das so gar nichts mit dem Tod zu tun hatte.
Auch ich
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