Das andere Ufer der Nacht
möchte, dass Sie mir einen Gefallen erweisen, John.«
»Wenn ich kann, gern.«
»Bestimmt.« Sie schaute mich direkt und bittend an. »Erzählen Sie niemanden, was ich von Ihnen wollte. Sie wissen schon, das mit dem Kind, der Nachfolgerschaft…«
Ich lachte leise. »Nein, keine Sorge, das bleibt unser Geheimnis. Außerdem ist die Sache jetzt gelaufen. Es gibt keine Rache mehr aus der Vergangenheit. Niemand braucht in der Knochenbarke über den Totenfluss zu fahren, um das andere Ufer der Nacht zu erreichen. Das ist alles vergessen.«
»Zum Glück.«
Achselzuckend kehrten Suko und Bill zu uns zurück. »Wir haben keinen Menschen mehr gefunden, wir sind die einzigen.«
»Dann ist meine Mutter tot.« Viviana bekam eine Gänsehaut, als sie das sagte, und sie musste sich noch etwas von der Seele reden. »Sie war nicht so schlecht. Sie hat immer versucht, mir eine gute Mutter zu sein, trotz allem, was geschah. Aber die Schatten der Vergangenheit waren stärker. Sie ließen es einfach nicht zu, dass wir ein normales Leben führten. Nur so konnte es zu diesen schlimmen Dingen kommen, die wir erlebt haben. Aber das ist vorbei.«
»Sicher.«
Bill Conolly dachte wieder praktisch. »Sollen wir nicht lieber verschwinden? Hier unten ist es mir einfach zu ungemütlich. Außerdem habe ich eine nasse Hose.«
»Konntest du nicht an dich halten?« fragte ich.
»Hau nicht so auf den Pudding, John! Deine wird auch gleich nass. Wir müssen nämlich über den Fluss!«
Das stimmte. Wir alle wären natürlich gern mit der Totenbarke zurückgefahren, nur kamen wir nicht gegen die Strömung an. So mussten wir den Weg zu Fuß zurückgehen, und mit den nassen Hosenbeinen sollte Bill recht behalten. Es war schon weit nach Mitternacht, als wir wieder im Schloss der Familie Marquez saßen. Es gab kein elektrisches Licht, auch keine moderne Heizung, deshalb mussten wir uns in die große Halle setzen und ein Kaminfeuer entfachen. Bald konnten wir uns vor dem Kamin wärmen. Das tat gut.
Viviana Marquez hatte uns gebeten, den Rest der Nacht zu bleiben, und diese Zeit nahmen wir uns. Es gab noch einiges zu bereden. Wenn bestimmte Fragen auftauchten, konnten wir noch den Zwerg oder den Mann mit der Eisenmaske fragen.
Beide hatten wir auf unserem Rückweg aufgelesen und mitgenommen. Uns war von Viviana auch der zweite Gang gezeigt worden, der aus dem Keller in das Innere der Burg führte. Wir mussten über eine hohe Treppe steigen, um in die entsprechenden Räume zu gelangen. Außerdem waren wir nicht die einzigen Gäste. Die vier Helfer der Senora hatten auf sie gewartet, um ihr zu erklären, dass sie nichts mehr mit ihren Machenschaften zu tun haben wollten. Das war nun nicht mehr nötig, und sie waren froh darüber.
Ob sie mittlerweile das Schloss verlassen hatten und wieder zurück ins Dorf gegangen waren, wussten wir nicht. Wir saßen vor dem Kamin und redeten über die Zukunft der Viviana Marquez, denn darum drehten sich ihre Gedanken.
»Haben Sie denn irgend etwas Bestimmtes vor?« fragte Bill, der ein Weinglas in der Hand hielt und auf die rote Flüssigkeit schaute.
»Ich weiß es nicht.«
Der Reporter hob die Schultern. »Ich für meinen Teil könnte es mir schlecht vorstellen, allein in einem so großen Schloss zu wohnen.«
»Daran habe ich auch schon gedacht.«
»Dann wollen Sie weg?«
»Was bleibt mir anderes übrig? Ich muss. Vielleicht gehe ich nach Madrid. Ich werde einen Makler beauftragen, dass er die alte Burg zum Verkauf anbietet. Vielleicht findet sich jemand.«
Das war am besten. Hinter uns lag ein verdammt hartes Abenteuer. Ich befand mich in einem Zustand zwischen Müdigkeit und einem Hellwachsein. Vor uns dreien lag eine lange Reise, deshalb war es wichtig, vorher noch eine Mütze Schlaf zu nehmen.
Ich erkundigte mich bei Viviana nach den Gästezimmern. Sie erschrak. »Wollen Sie jetzt schlafen?«
»Ja.«
»Aber ich nicht.«
»Das kann ich verstehen, nur sollten Sie sich wenigstens hinlegen und es versuchen.«
»Das wird schwer sein.«
Etwas polterte im Hintergrund. Dann hörten wir einen fürchterlichen Schrei. Blitzschnell sprangen wir in die Höhe. Suko und ich rasten als erste auf die Tür zu, die uns aus dem Rittersaal führte. Dahinter befand sich ein langer Gang, der auch zum Burgtor führte. Dort lag jemand. Ich hatte die Namen der vier Männer, die der Senora gedient hatten, nicht in Erinnerung, später erfuhr ich, dass es der Wirt Ramon gewesen war. Er sah furchtbar aus.
Irgendeine Stichwaffe
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