Das andere Ufer der Nacht
sie gebaut worden waren. Mich ließen sie kommen. Sie mussten mich schon längst gesehen haben, trotzdem unternahmen sie nichts. Ich schwang herbei. In einer Welt der Lautlosigkeit, der anderen Daseinsebene musste ich mit den Mitteln kämpfen, die mir auch normalerweise zur Verfügung standen.
Mit meinem Kreuz zum Beispiel.
Jetzt konnte ich auch ihre Gesichter erkennen. Sie waren blasse Flecken, zeigten keinerlei Spuren von Gewaltanwendung. Den Kutten nach zu urteilen, waren sie vielleicht Mönche gewesen, die man damals getötet hatte und die jetzt weiterlebten.
Ob ich schießen sollte? Ich dachte darüber nach, ob in dieser Welt eine abgeschossene Kugel einen Körper durchschlagen konnte. Das waren alles Probleme, mit denen ich mich herumzuschlagen hatte, aber wichtig war die Befreiung des Mädchens.
Sie erwartete mich. Längst hatte sie mich gesehen, und ein Schimmer der Hoffnung glitt über ihr verzerrtes Gesicht. Ich sah das Lächeln, sie wollte etwas von mir, sie vertraute auf mich, und ich griff ein. Ich fasste sie an und freute mich, sie zu spüren. Viviana war nicht tot, sie befand sich noch in einem normalen Zustand, ebenso wie ich.
»Keine Angst«, wisperte ich ihr zu. »Keine Sorge, wir werden es gemeinsam schaffen.«
Sie nickte. Ihre Arme waren nach wie vor stramm gezogen. Sie bildeten mit den Schultern eine Linie. Ich bekam das Band an der rechten Seite zu fassen, zerrte daran und schaffte es nicht, die Fesseln zu lösen. Auch an der anderen Seite erlebte ich das gleiche. Dafür bewegte sich das Mädchen. Ihr Mantel schwang an zwei verschiedenen Seiten auseinander, ich konnte auf ihren Körper schauen und sah etwas aus den Taschen ragen.
Es war ein handlicher Griff. Und er gehörte zu einer Waffe, die ich kannte. Es war die Dämonenpeitsche!
Mich interessierte es nicht, wie sie in den Besitz der jungen Spanierin gelangt war, für mich war wichtig, dass es sie gab, denn sie würde mir weiterhelfen können. Mit einem heftigen Ruck riss ich sie hervor, schlug einen Kreis, und die drei Riemen rutschten aus dem Griff. Jetzt konnte ich nur darauf hoffen, dass die Peitsche auch in dieser geisterhaften Welt ihre Kraft nicht verloren hatte. Ich holte aus und schlug zu. Die Riemen fächerten auseinander und trafen. Ein Zucken lief durch die Erscheinung. Der von mir als ehemaliger Mönch bezeichnete Geist beugte sich zurück. Er riss die Arme hoch, löste den Griff um die Fessel und kippte plötzlich nach hinten. Das war nicht alles. Plötzlich stieg dort, wo er getroffen worden war, Dampf aus der geisterhaften Gestalt. Es waren dünne Rauchfaden, die sich von der übrigen Farbe kaum abhoben, und sie flatterten träge zur Seite, bevor sie sich mit dem grauen Licht vereinigten. Mehr blieb nicht zurück.
Mir aber fiel ein Stein vom Herzen. Ich hatte tatsächlich in dieser Geisterwelt einen ersten Sieg errungen. So etwas gab Hoffnung. Den nächsten nahm ich mir vor. Auch bei ihm brauchte ich nur einmal zuzuschlagen, um ihn voll zu erwischen. Kaum war er vernichtet, als Vivianas Arme nach unten sanken, sie nach vorn fiel und mir in die Arme sank.
Engumschlungen schwebten wir in dieser fremden Welt, ich hörte Viviana weinen, ließ ihr einige Sekunden, bevor ich sie wieder in die Realität zurückriss.
»Noch haben wir nicht gewonnen. Wir müssen davon ausgehen, dass hier jeder unser Feind ist.«
Sie drückte sich von mir weg. Fahrig wischte sie sich die Tränen aus den Augen. »Ich habe sie gehört. Sie… sie sprechen zu mir.«
»Und was wollten sie?«
»Mich, die Mutter!« Viviana starrte mich an. In ihren Augen lag ein Ausdruck des Flehens. »Sie kennen keine Gnade. Sie machen uns für das verantwortlich, was bereits vor Jahrhunderten geschehen ist. Glauben Sie mir, wir kommen hier nicht mehr lebend raus. Es ist das Jenseits. Was es einmal besitzt, lässt es nicht mehr los.«
Ich schüttelte den Kopf. »Wir befinden uns nicht im Jenseits.«
»Wo dann?«
»In einer fremden Dimension.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Ist egal«, erklärte ich und drehte mich um. Meiner Ansicht nach musste die Vernichtung der beiden Geister auch von den anderen bemerkt worden sein. Hinnehmen würden sie das nicht, deshalb mussten das Mädchen und ich damit rechnen, von ihnen gequält und möglicherweise auch getötet zu werden. Sie hatten als Menschen die Folter erlebt und würden sie meiner Ansicht nach an uns weitergeben.
»Haben sie sonst noch etwas gesagt?« fragte ich das Mädchen.
»Nein…«
Wie kommen wir
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