Das Antlitz der Ehre: Roman (German Edition)
ins Wanken. Gret holte sie wieder ein. Mit einem schweren Seufzer hielt sie Elisabeth zurück.
»Gut, ich helfe dir bei deinem wahnwitzigen Plan. Aber du musst tun, was ich sage. Du bleibst hier in der Stadt – nein, keine Widerrede. Du hast den wichtigeren Teil zu erledigen. Es ist sicher nicht so schwer, von den Torwächtern in die Vorstadt entlassen zu werden. Entscheidend dagegen ist, ob wir und die, die du retten willst, nachher in die Stadt eingelassen werden. Du musst dafür sorgen, dass uns die Wächter öffnen! Meister Thomas wird dir helfen.«
»Was? Ich? Was soll ich tun?«, rief der Apotheker verwirrt.
Gret zwinkerte ihm zu. »Elisabeth wird Euch in Eure Aufgabe einweihen. Ich werde nun meinen Charme spielen lassen – und ein paar Münzen wären sicher auch nicht schlecht, um meinem Anliegen Nachdruck zu verleihen!«
Hastig kramte Elisabeth in ihrem Beutel unter dem Umhang
und drückte Gret einige Münzen in die Hand, ohne sie genauer anzusehen.
»Ein Goldgulden?«
»Wenn er Menschenleben rettet, ist es das wert«, gab Elisabeth zurück, aber Gret schüttelte den Kopf. »Nein, das ist zu viel. Die Schillinge reichen. Du kannst es auch verderben, wenn du zu viel Gier erweckst und Fragen aufwirfst, die du nicht beantworten willst. Du – wir alle machen nicht den Eindruck, als würden wir Goldgulden in der Tasche tragen, und so sollte es auch bleiben.«
Gret ging energischen Schrittes auf die beiden Wächter zu, die ihre Hellebarden vor ihrer Brust kreuzten. Sofort begann sie auf die Männer einzureden, und sie hörten ihr zu. Elisabeth zögerte.
»Vielleicht ist es im Augenblick besser, sich nicht einzumischen«, schlug Meister Thomas vor. »So wie es aussieht, scheint ihr Plan aufzugehen – wie immer er auch aussehen mag.«
Elisabeth beobachtete die beiden Wächter, die aufmerksam an Grets Lippen hingen. Wie machte sie das nur? Sie war sicher nicht besonders hübsch zu nennen. Sie war zu robust gebaut, um als weiblich zu gelten, ihr feuerrotes Haar stieß bei vielen eher auf Misstrauen oder gar Ablehnung, und ihr Gesicht war über und über von Sommersprossen bedeckt. Nein, sie war nicht der Typ wie beispielsweise Marthe, auf den Männer flogen und von dem sie sich nur allzu gern einwickeln ließen. Dennoch war Grets Überzeugungskraft nicht von der Hand zu weisen. Sie schaffte es mit klugen Worten und einem eindringlichen Blick, dem nur wenige widerstehen konnten.
Elisabeth sah, wie die beiden nickten und die Münzen entgegennahmen, die sie ihnen reichte. Dann setzten sie sich in Bewegung. Elisabeth hielt die Luft an. Ja, sie ließen Gret tatsächlich durch das Törlein schlüpfen, das sie erst zum Vortor und dann über den Graben in die Pleichach führen würde.
»Sie hat es geschafft.« Meister Thomas nickte anerkennend.
»Ja, und wir müssen dafür sorgen, dass die Wächter sie auch wieder einlassen. Kommt, lasst uns auf die Mauer steigen, dann können wir sie sehen, wenn sie zurückkommt. Und vielleicht auch, wie viel Zeit uns noch bleibt. Hat der Sturm bereits begonnen?«
Sie stiegen die Treppe zur Mauer hinauf, die zusammen mit dem Graben der Pleichach die Vorstadt von der inneren Stadt trennte. Die beiden Wächter auf dem Wehrgang wollten sie davonschicken, doch nun versuchte Meister Thomas sein Glück. Offensichtlich hatte auch er diplomatisches Talent, denn die Wächter zogen sich brummend ein Stück zurück, mahnten aber, dass die Bürger nicht die Wehrgänge verstopfen dürften, sollte es ernst werden. Meister Thomas versicherte, dass dies nicht in ihrer Absicht läge.
Elisabeth trat an die Mauerkrone und sah über die Vorstadt hinaus. Es war inzwischen hell geworden, auch wenn die Sonne sich noch nicht zeigte. Sie konnte einige Menschen erkennen, die sich auf dem Kirchplatz eng zusammendrängten. Noch immer dröhnte das Läuten der Sturmglocken über der Stadt, doch der Angriff ließ auf sich warten. Elisabeth konnte überhaupt kein Heer ausmachen, so weit ihr Blick an der Mauer entlang auch reichte. Was hatte die Türmer veranlasst, die Glocken läuten zu lassen? Irgendetwas mussten sie doch entdeckt haben, das sie beunruhigte und auf einen bevorstehenden Angriff schließen ließ.
Meister Thomas trat neben sie. »Seltsam. Was die dort oben wohl machen? Ich kann es nicht erkennen, doch es wird nichts Gutes sein, fürchte ich.«
Elisabeth folgte mit ihrem Blick der ihr angezeigten Richtung. In der zunehmenden Helligkeit des Morgens erkannte sie eine Gruppe Männer in
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