Das Antlitz der Ehre: Roman (German Edition)
hätte ich anders entscheiden können, ohne meine Ehre zu verlieren und meinen Schwur zu brechen? Sage mir das, oh Herr!«
Albrecht warf die Arme in die Luft. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Deine Strafe komme über mich. Wie aber kannst Du die armen Bürger und Bauern, die schon so viel gelitten haben, noch weiter beschweren? Ist das die göttliche Gerechtigkeit?«
»Wer sagt denn, dass es göttliche Gerechtigkeit bereits auf Erden gibt?«
Die Worte ließen Albrecht herumfahren. Für einen Augenblick dachte er hoffnungsvoll, der Allmächtige würde ihm endlich antworten, doch er erkannte sehr rasch, dass diese Stimme ganz und gar nicht göttlich klang. Albrecht schritt auf den Mann zu, der unbemerkt die Basilika betreten hatte.
»Dompropst von Grumbach, welch Überraschung! Was wünscht Ihr?«
Hans von Grumbach neigte kurz das Haupt und schickte dann seinen Diener Fritz Hase, der hinter ihm eingetreten war, wieder hinaus.
»Lasst uns ein wenig hier unter dem Antlitz des Herrn Platz nehmen.«
»Seid Ihr gekommen, um mit mir zu beten?«, fragte Albrecht ungläubig.
Der Propst lachte kurz auf. »Nein, danke, und ich habe auch nicht das Bedürfnis, Euch zu beichten. Die Nöte der
Stadt Würzburg führen meinen Schritt auf den Marienberg. Und wie ich höre, beschäftigt ihre Lage auch Eure Gedanken.«
Albrecht spürte, wie er errötete. Es war ihm peinlich, dass der Propst Zeuge seiner Verzweiflung geworden war. Er konnte nur hoffen, dass es in der Basilika zu düster war, als dass der von Grumbach seine Verlegenheit bemerkte. So erwiderte er mit fester Stimme.
»Ja, das ist ein guter Einfall. Lasst uns über Würzburg sprechen und darüber, wie wir diese leidige Belagerung zu einem schnellen Ende führen.«
Als der nächste Morgen anbrach und sich die Sonne erhob, war das Heer verschwunden. In der Ferne konnte man noch die Rüstungen und Speerspitzen aufblitzen sehen. Doch es gab keinen Zweifel: Sie zogen ab und ließen eine äußerlich heile, doch in der Seele verwundete Stadt zurück.
In der Natur draußen wurde es Sommer, doch die Bewohner Würzburgs litten unter einer Starre, die sie sonst nur in trüben Novemberwochen befiel. Die Folgen der Belagerung waren noch nicht überwunden. Zum einen saß der Schock tief. Man hatte ihnen wieder einmal vor Augen geführt, wie verletzlich sie trotz ihrer hohen Mauern doch waren. Zum anderen hatten die Belagerer mit der Verwüstung der Ernte – und, noch schlimmer, mit der Vernichtung der Weinstöcke und Obstbäume – viele Familien ihrer Existenz beraubt. Zahlreiche Kleinbauern waren ruiniert. Wovon sollten sie ihre Pacht aufbringen? Wie ihre Familien ernähren? Die Häcker, Mägde und Knechte, die nicht auf eigenen Feldern und Weinbergen arbeiteten, waren nicht ganz so schlimm dran, denn der Verlust traf vor allem die großen Güter der Domherren und Klöster der Stadt. Dennoch wussten sie nicht, wie schnell die Kirchenherren die Weinberge wieder zu bestellen gedachten und wann es wie viel bezahlte Arbeit für sie geben würde.
Die große Lese im Herbst würde jedenfalls ausfallen, und das bedeutete für alle armen Bewohner der Stadt ein Loch in ihrem Beutel, von dem sie nicht wussten, wie sie es stopfen sollten. Es würden ihnen die entscheidenden Münzen fehlen, die den Unterschied zwischen einem erträglichen Winter und Wochen in Kälte und Hunger ausmachten.
»Wir werden es alle spüren«, prophezeite Georg düster. »Oder zumindest die, die den Winter in der Stadt verbringen werden.«
Elisabeth horchte auf. Sie saßen nach dem Spätmahl noch gemeinsam in der Stube. Die Nächte waren jetzt so warm, dass man den Ofen nicht mehr einheizen musste. Wochen waren vergangen, seit sich Elisabeth bei ihrem Bruder in der Franziskanergasse einquartiert hatte. Eigentlich hatte sie nicht vorgehabt, so lange zu bleiben, doch nun schob sie die Abreise immer wieder hinaus. Sie fühlte sich in ihrer kärglichen Kammer in dem schmalen Kaufmannshaus wohl, was nicht nur daran lag, dass sie nun wieder die Freiheiten genoss, die sie sich als Kind auf dem Marienberg herausgenommen hatte. Ihr Bruder war meist beschäftigt und fragte nicht, wie sie ihre Tage verbrachte. Zusammen mit Gret und Jeanne, die nebenbei das kleine Haus in Ordnung hielten und sich um die Mahlzeiten kümmerten, streifte sie durch die Stadt. Oder sie half Meister Thomas bei seiner Arbeit, was nicht wenig zu ihrem Wohlbefinden in Würzburg beitrug. Vielleicht war das gar der echte Grund dafür,
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