Das Antlitz der Ehre: Roman (German Edition)
holen.«
Elisabeth umarmte ihren Bruder. »Pass auf dich auf. Ich könnte es nicht ertragen, dich zu verlieren.«
Er wand sich verlegen aus der Umklammerung. »Mir passiert schon nichts. An der Mainseite ist alles ruhig. Nein, sie werden vom Rennweg her kommen. Dort an den Hängen über der Stadt regt sich was. Es war bisher nur zu dunkel, etwas zu erkennen.«
»Wie ich es gesagt habe«, murmelte Elisabeth. Der Albtraum schien wieder von ihr Besitz ergreifen zu wollen. Nein, das konnte und das würde sie nicht zulassen!
»Ich muss etwas erledigen. Bleibt ihr hier«, sagte sie und stürmte los. Die anderen dachten gar nicht daran, ihr zu gehorchen. Meister Thomas und Gret hatten keine Schwierigkeiten, mit ihr Schritt zu halten.
»He, ich bleibe auch nicht zurück!« Jeanne raffte ihre Röcke und rannte ihnen hinterher.
»Darf man erfahren, was Ihr vorhabt?«, erkundigte sich Meister Thomas im Plauderton, während er scheinbar lässig neben der mit grimmiger Miene voranstürmenden Elisabeth herging. Sie schob die ihr entgegenkommenden Menschen energisch beiseite.
»Nein, das dürft Ihr nicht, und es wäre mir auch lieber, wenn Ihr hierbleiben würdet.«
»Und Euch alleine irgendeine wahnwitzige Tat begehen lassen? Nie und nimmer. Ich werde mitkommen. Also könnt Ihr mir auch gleich verraten, was Ihr vorhabt.«
Elisabeth funkelte ihn zornig an, was Meister Thomas jedoch nicht zu beeindrucken schien. Sie querte die Domgasse, ohne langsamer zu werden, und stürmte dann weiter über den Platz vor der Marienkapelle, wo sich einst die Judensiedlung mit ihrer Synagoge erhoben hatte. Die Kirche der Bürger, deren Bezeichnung Kapelle nicht ganz zu dem mächtigen Gebäude
passte, war auf der Stelle des abgebrochenen jüdischen Gotteshauses errichtet worden, um den Platz von aller Sünde zu reinigen.
Als sie sich dem inneren Pleichacher Tor näherten, stieß Gret einen Pfiff aus. »Ich weiß ja nicht, was du vorhast, aber mir ist klar, wie dein Ziel aussieht. Hast du wirklich genau über die Folgen deines Tuns nachgedacht?«
Elisabeth blieb abrupt stehen und starrte Gret mit unbewegter Miene an. Gret erwiderte den Blick.
»Was? Was hat sie vor? Ich weiß gar nichts«, beschwerte sich Jeanne, die schon ganz außer Atem war. »Würde mir mal jemand was erklären?«
»Ja, das wäre nicht unschön«, murmelte Meister Thomas.
»Ich habe vor allem darüber nachgedacht, was für Folgen es hat, wenn ich nichts tue! Du weißt genau, wo die schwächste Flanke unserer Stadt zu suchen ist, und ich vermute, dass unsere Belagerer nicht dumm sind. Sie werden über den Rennweg kommen und dann in die Vorstadt Haug und in die Pleichach eindringen. Daher werde ich nicht abwarten und zusehen, bis es passiert ist.«
Gret nickte. »Ja, so ist es. Willst du alle beschützen, die in Gefahr sind, oder nur die, die dir am Herzen liegen? Wer hat es verdient, gerettet zu werden, und wer muss selbst sehen, wie er klarkommt?«
Elisabeth spürte die bedrückend schwere Wahrheit hinter Grets Worten. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie dachte nicht mehr daran, dass Meister Thomas neben ihr stand und den Wortwechsel in zunehmender Verwirrung verfolgte.
»Du hast mit ihnen zusammengelebt. Sie waren deine Freundinnen, deine Familie! Kannst du sie so einfach aufgeben?«
Jeanne stöhnte. Offensichtlich hatte nun auch sie begriffen, was Elisabeth vorhatte, während der Apotheker natürlich noch immer im Dunkeln tappte.
Gret ergriff Elisabeths Arm. »Ich habe mit ihnen gelebt, doch sie waren weder meine Freundinnen noch meine Familie. Wir haben dies alles hinter uns gelassen und sollten uns jetzt nicht einmischen. Ja, es wird nicht leicht für die Menschen der Vorstädte, wenn es dem Kriegsvolk gelingt, bis zu ihnen vorzudringen. Es wird Verletzte und es wird Tote geben. Doch sie werden nicht die ganze Bevölkerung massakrieren.«
»Sie werden die Frauen schänden«, hauchte Elisabeth kaum hörbar, und auch Gret senkte ihre Stimme so weit, dass nur die Freundin sie hören konnte.
»Ja, das werden sie. Doch wenn das deine schlimmste Befürchtung ist, dann sollten deine Sorge und dein Mitgefühl den Klosterfrauen und den jungen Mädchen der Handwerkerfamilien gelten. Die Frauen der Eselswirtin erleben das jede Nacht, und ich sage dir, sie haben die größten Chancen, diesen Tag unversehrt an Leib und Seele zu überstehen.«
Elisabeth wehrte sich gegen die Vernunft in Grets Worten. Sie ging weiter auf das Tor zu, doch ihre Entschlossenheit geriet
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