Das Antlitz der Ehre: Roman (German Edition)
Morgenmahl im Saal und bei ihrem Gang über den Hof hatte sie ihn auch noch nicht gesehen.
Unverrichteter Dinge stieg sie die Treppe wieder hinunter. Da öffnete sich eine Tür in dem düsteren Gang des unteren Geschosses. Ein Sonnenstrahl, der durch das Fenster der Kammer fiel, umhüllte Meister Thomas’ großgewachsene Gestalt.
»Fräulein Elisabeth, sucht Ihr Euren Bruder? Er ist bereits vor Stunden aufgebrochen.«
»Aufgebrochen?«, echote Elisabeth entsetzt.
»Es war noch vor dem ersten Grau des Morgens. Ihr habt noch geschlafen, sonst hätte er sich von Euch verabschiedet«, ergänzte Meister Thomas entschuldigend. »Ein Kaufmann muss früh auf den Beinen sein, um das Licht des Tages zu nutzen, gerade wenn die Tage des Herbstes immer kürzer werden und wir jederzeit fürchten müssen, dass Sturm und Regen die Straßen aufweichen und für unsere Karren unpassierbar machen.«
»Ja, sicher«, stimmte ihm Elisabeth zu. »Aber wo ist er denn hin? Und wie lange wird er fortbleiben?« Sie hörte die wachsende Verzweiflung in ihrer Stimme und konnte nur hoffen, dass Meister Thomas nichts davon bemerkte. Zumindest
ließ sein Tonfall nichts Derartiges vermuten, als er ihr antwortete.
»Genau kann ich es Euch nicht sagen. Ein paar Tage ganz sicher, vielleicht auch Wochen. Das kommt darauf an, wie er auf den Straßen vorankommt und wie sich die Geschäfte entwickeln. Jedenfalls ist sein erstes Ziel Bamberg, das hat er mir versichert, als er einige meiner Kisten mitnahm, um sie meinem Vater zu überbringen.« Entschuldigend hob er die Achseln. »Ihr werdet Euch also ein wenig gedulden müssen, bis Ihr ihn wiederseht.«
Elisabeth nickte langsam. »Tage, vielleicht Wochen«, wiederholte sie. »So lange kann ich nicht warten.« Fragend sah Meister Thomas sie an.
»Bis ich den Marienberg verlasse«, fügte sie hinzu, obwohl ihn das nichts anging.
Meister Thomas schien sich des Dramas hinter diesen Worten nicht bewusst. Er nickte nur und lächelte freundlich. »Ach, Ihr werdet auch reisen? Doch nicht etwa zu Bischof von Brunn auf den Zabelstein? Ich bin nämlich bereits dabei, meine Reisetruhen zu packen, um mich noch heute dorthin zu begeben.«
»Auf den Zabelstein? Zu meinem Vater?«, wiederholte Elisabeth, die dachte, sie müsse ihn falsch verstanden haben.
»Aber ja, er hat nach mir geschickt und möchte sich die Arzneien zeigen lassen, die ich aus China und Indien und von den wilden Stämmen der Berber mitgebracht habe. Ob ich allerdings länger bleibe und für ihn tätig werde, kann ich jetzt noch nicht sagen. Das muss ich erst mit seiner Exzellenz besprechen. Haben wir etwa denselben Weg?«
Elisabeths Lippen teilten sich. »Es sieht ganz so aus«, sagte sie, und plötzlich fühlte es sich an, als sei ihr ein Fels von der Seele genommen.
»Dann sollten wir uns zusammentun«, schlug Meister Thomas vor. »Es ist stets sicherer, wenn man in Begleitung reist.«
Elisabeths Lächeln wurde breiter. »Ich werde mir die größte Mühe geben, Euch und Eure wertvollen Waren zu beschützen.«
Der Apotheker verbeugte sich und erwiderte das Lächeln. »Ich danke Euch für dieses selbstlose Angebot. Es ist mir eine große Ehre. Wann wünscht Ihr aufzubrechen?«
Elisabeth überlegte kurz. »In einer Stunde, wenn Euch das recht ist?«
Meister Thomas nickte. »Gut, dann treffen wir uns in einer Stunde am äußeren Tor. Ich vermute, Ihr nehmt eine der Reisekutschen?«
»Ja, und ich werde noch zwei Reitpferde mit mir führen«, entschied Elisabeth spontan. »Meinen Schimmel und meine Fuchsstute.«
Sie hatte vor Jeanne und Gret zwar behauptet, sie wolle nichts mitnehmen, das ihr nicht zustehe, doch sie konnte sich nun nicht dazu durchringen, ihre beiden Lieblingspferde zurückzulassen. Ihr Vater hatte sie ihr geschenkt – so wie all ihre Kleider, die Umhänge und Pelze und das wertvolle Geschmeide, das mehrere kleine Truhen in ihrem Gemach füllte. Alles vom Gold des Landes, das dieses so dringend brauchte, um die drückende Schuldenlast zu erleichtern.
Was also stand ihr zu und was nicht? Nein, sie würde ihre beiden Pferde nicht zurücklassen, damit sie verkauft oder auf den nächsten Kriegszug geschickt würden. Zumindest nicht diese beiden.
Ihre Entrüstung in der Kammer vorhin kam ihr plötzlich heuchlerisch vor, doch sie beruhigte sich mit dem Gedanken, sie folge ja nur Grets Rat, die sie für verrückt erklärt hatte, alles zurückzulassen. Ihre anderen Rösser jedoch, beschloss sie schweren Herzens, sollten auf
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