Das Antlitz der Ehre: Roman (German Edition)
Menschen auf den Platz drängten.
Elisabeth erhaschte einen Blick auf die rot gekleidete Gestalt des Henkers, der nun die Rathaustreppe herunterkam, gefolgt vom Schultheiß und einigen Bewaffneten. Was sonst keinem Menschen von noch so großer und kräftiger Gestalt gelungen wäre, war ihm ein Leichtes. Er pflügte durch die aufgebrachte Menge bis zu dem bischöflichen Boten, der, wie seine Männer, schon arg zugerichtet war. Der Henker legte dem Baiersdorfer die Hand auf die Schulter. Seine Angreifer ließen von ihm ab und wichen ein Stück zurück. Es war das erste Mal, dass Elisabeth in der Miene eines Mannes Erleichterung lesen konnte, als der Henker ihn in Gewahrsam nahm. Er gab ihn an den Schultheiß weiter, während die Bewaffneten die anderen ins Rathaus führten. Sie jedenfalls würden nicht zu Tode geprügelt werden, und Elisabeth
hoffte inständig, dass dies auch keinem der Gottesmänner geschah.
Plötzlich kam wieder Bewegung in die Menge. Sie floss wie ein Strom vom Platz die Domstraße entlang und dann nach Norden am Neumünster vorbei. Die Frauen wurden mitgetragen. Was war nur los? Was hatten die Menschen vor?
Irgendwie wäre es ihnen sicherlich gelungen, sich in eine der Seitengassen zu retten, doch die vibrierend aufgepeitschte Stimmung hielt sie in ihrem Bann und zog sie mit sich. Es war klar, dass der Mob noch immer der Abkühlung bedurfte, und da kam ihnen eine junge Nonne gerade recht. Sie blieb stolz mitten auf dem Weg stehen und beschimpfte die Menge ihrer ungezügelten Wut wegen.
Elisabeth schlug die Hand vor die Augen. Nein, was war dieses Kind naiv. Sah es denn nicht, dass jede Vernunft aus den Köpfen der Menschen gewichen war und es nun einer wogenden Masse aus Zorn und Gewalt gegenüberstand?
Da wurde die Nonne auch schon rüde von zwei Männern gepackt. Sie kreischte auf, nun plötzlich die Angst verspürend, die sie zuvor nicht vor der Gefahr hatte warnen wollen. Doch die Würzburger waren bereits jenseits von Mitleid und Menschlichkeit.
»Bringen wir sie nach Hause!«, schrie einer.
»Ja, auf nach St. Afra«, fielen einige ein, die Spieße und Äxte bei sich trugen.
»Das wird nicht lustig«, meinte Gret mit umwölkter Stirn. »Das solltest du dir nicht ansehen!«
»Aber was werden sie den armen Schwestern antun?«
»Nichts, das du verhindern könntest«, gab Gret zurück. Sie packte Elisabeth und zog sie in eine Seitengasse. Jeanne kämpfte sich hinter ihnen her. Dort drückten sie sich in die Nische eines Hauseingangs und beobachteten den aufgewühlten Mob, der wie eine reißende Woge unter dem Spitaltor aus der Stadt hinausspülte und die Semmelgasse hinunterbrandete.
Dem Mob gelang es tatsächlich, in das Kloster St. Afra einzudringen. Das Haus der Benediktinerinnen vor der Stadt nahm nur ledige Töchter adeliger Familien auf, vornehmlich aus der fränkischen Ritterschaft. Und im Gegensatz zu den Mönchen und Schwestern der Bettelorden, die ein bescheidenes Leben in Arbeit, Gebet und im Dienst an ihrem Nächsten führten, genossen die Klosterjungfrauen von St. Afra die Bequemlichkeiten einer aristokratischen Lebensweise. Nichtadelige Brüder und Schwestern erledigten nicht nur die harte Arbeit, die Laienschwestern hatten auch für das Wohl der Nonnen zu sorgen. Die Bürger wussten, ihre Äbtissin Cäcilie stammte aus dem Haus von Grumbach und war eine Cousine des Dompropstes, der mit den anderen Domherren Verrat an Würzburg begangen und sich wieder auf die Seite dieses elenden Bischofs geschlagen hatte. Da der Propst und seine Anhänger Würzburg vorsorglich verlassen und sich in Ochsenfurt verschanzt hatten, entlud sich nun der Zorn des Mobs über den Häuptern der Klosterfrauen von St. Afra.
»Wie schlimm war es?«, fragte Elisabeth bang, als Meister Thomas am Abend von seinem Erkundungsgang zurückkehrte.
»Ein großer Haufen ist in St. Afra eingefallen. Sie haben Kirche und Kloster geplündert, ja, sind selbst in die Schlafkammern der Schwestern eingedrungen und – nun ja, sie haben die Klosterfrauen und Laienschwestern misshandelt.«
Elisabeth konnte sich nur allzu gut ausmalen, wie diese Misshandlungen ausgefallen sein mochten. Sie spürte, wie die Übelkeit sich in ihrem Magen zusammenballte. »Und keiner hat ihnen geholfen«, hauchte sie. »Was ist nur aus der wohlanständigen Bürgerschaft geworden?«
»Ich nehme nicht an, dass sich die Herren des Rats daran beteiligt haben. Jedenfalls wurden die Laienbrüder, die den Schwestern helfen wollten, von der
Weitere Kostenlose Bücher