Das Antlitz der Ehre: Roman (German Edition)
aufgebrachten Menge zusammengeschlagen.
Ich weiß nicht, ob es Tote gegeben hat. Zumindest habe ich nichts davon gehört.«
Elisabeth barg den Kopf in den Händen. »Schon wieder so viel Gewalt.«
Meister Thomas nickte und sah betreten zu Boden. Offensichtlich wusste er nicht, was er nun tun oder sagen sollte, oder er fürchtete, sie würde sich gleich in einer Tränenflut auflösen.
»Ungerechtigkeit löst sich von Zeit zu Zeit in Gewalt«, sagte er leise. »Die adeligen Klosterfrauen haben stets ein bequemes Leben geführt und müssen sich an keinen Abgaben und Steuern beteiligen, während der Bürger unter der Last in die Knie sinkt. Da wundert es nicht, dass sich die angestaute Wut irgendwann Luft macht.«
»Versucht Ihr gerade die Gewalt gegen diese Frauen zu rechtfertigen?«
Meister Thomas wich unter ihrem wilden Blick zurück. »Nicht zu rechtfertigen. Nur zu erklären. Es trifft selten die, die es verdient hätten. Es war schon von jeher so, dass die Schwächsten ausbaden, was die Großen verbrochen haben. Das ist die Ungerechtigkeit dieser Welt, die wir ertragen müssen.«
Am nächsten Tag beruhigte sich die Lage. Der Rat beschloss, den Boten und seine Begleiter vorerst in einen der Gefängnistürme zu sperren. Die Frauen von St. Afra begannen mit den Aufräumarbeiten und versuchten mit Hilfe ihrer Ordensbrüder zum Alltag zurückzukehren. Bürgermeister Johann Bernheim verkündete, der Rat habe beschlossen, Ritter Jobst von Riedern, Kaspar von Masbach und Heinz von Imertingen mit siebenundzwanzig Reitern für ein Jahr zum Schutz der Stadt zu verpflichten.
»Sie sind nervös«, kommentierte Georg die Entscheidung.
Elisabeth nickte. »Ja, sie haben bereits erfahren, dass der
Bischof nicht dazu neigt, über solche Ausbrüche wohlwollend hinwegzusehen.« Sie brachte es wieder einmal nicht über sich, ihn »unser Vater« zu nennen.
Und so wartete die Stadt gespannt, wie der Bischof reagieren würde, obgleich sich die Bürger natürlich im Recht fühlten.
Es vergingen nur wenige Tage, da erreichte ein Schreiben den Rat, in dem der Bischof ihnen mitteilte, er habe sich bei der Kirchenversammlung über die Stadt beschwert und eine Untersuchung des Vorfalls verlangt. Domherr Dr. Thomas Strampinus würde der Sache nachgehen. Der Bote, der das Schreiben überbrachte, hatte sich wohlweislich nach der Übergabe schnell in Sicherheit gebracht, doch im Augenblick lag Ruhe über der Stadt. Die Übermütigen und Zornigen hatten sich ausgetobt. Vorläufig jedenfalls.
»Eine Beschwerde vor der Kirchenversammlung und eine Untersuchung?«, wiederholte Meister Thomas. »Das ist eine harmlose Reaktion. Habt Ihr den Bischof vielleicht falsch eingeschätzt?«
Elisabeth zögerte. »Er wird älter. Ihr wisst, wie viele Leiden ihn plagen. Die Gicht, die offenen Beine, das Reißen in allen Gliedern, und ich glaube, er findet oft nur wenig Schlaf.«
»Und du meinst, das hat ihn gezähmt?«, warf ihr Bruder Georg ein.
»Blödsinn«, murmelte Gret, die gerade einen herrlich duftenden Speckkuchen auf den Tisch stellte. »Er streut den Bürgern wieder einmal nur Sand in die Augen. Das glaube ich jedenfalls«, verteidigte sie sich, als die anderen verstummten und alle Blicke sich auf die Magd richteten.
Doch statt sie zu rügen und ihr mit barscher Stimme zu verbieten, sich in die Gespräche der Herrschaft einzumischen, nickte Georg nur nachdenklich.
»Feuerschopf, du könntest recht haben.«
Elisabeth schwieg. Sie wollte ihrem Bruder und Gret nicht
zustimmen, konnte aber auch nicht aus überzeugtem Herzen dagegen sprechen. Ihr blieb nur zu hoffen, dass ihr Vater sich wirklich geändert hatte, dass das Alter ihn milde stimmte oder ihm die Kraft nahm, weiterhin gegen alle Widerstände anzukämpfen.
Wieder verstrichen einige Tage, die Elisabeth in trauter Harmonie im Haus ihres Bruders erlebte. Sie liebte die Mahlzeiten, wenn sie sich alle in der Stube um den Tisch herum versammelten. Meist saß nun auch Georgs Diener Sebastian mit in der Runde. Wobei er nur selten etwas sagte. Er war ein großer, kräftiger Mann mit einem groben Gesicht – aber einem sanften Gemüt, wie Elisabeth schnell herausfand –, der mehr als zwanzig Jahre älter war als ihr Bruder. Den Rest des Tages verbrachte Elisabeth meist mit Besorgungen oder bei Meister Thomas in der Küche, wo sie ihm geschickt zur Hand ging, was er nicht müde wurde lobend zu erwähnen. Sie begleitete ihn auch noch zweimal zu Meister Heinrich und hörte aufmerksam zu,
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