Das Antlitz der Ehre: Roman (German Edition)
Viertel.« Der Bürgermeister machte eine kunstvolle Pause und sah noch einmal auf das Schreiben herab, das er in der Hand hielt. Aus dieser Entfernung konnte Elisabeth das Siegel nicht erkennen, vermutete aber, dass es das der Edlen von Brunn war und das Schreiben aus der Feder ihres Vaters stammte oder, genauer gesagt, aus Friedleins Feder.
»Heute also halte ich wieder ein Schreiben des Bischofs in Händen, das sein Bote mir überbracht hat.« Er nickte in die Richtung, in der Elisabeth Heinrich Baiersdorfer und seine Begleiter entdeckte. Obwohl der Bürgermeister noch immer nicht verraten hatte, wie die Botschaft des Bischofs lautete, konnte Elisabeth spüren, wie den Überbringern Feindschaft entgegenbrandete. Die Leute, die in der Nähe standen, zischten Schmähungen in ihre Richtung. Der Bürgermeister erhob noch einmal die Stimme. Lauter noch als zuvor.
»Da uns der Bischof mit keiner Schmeichelei oder Drohung überzeugen konnte, will er nun die Stadt mit dem kirchlichen Bann belegen, sollten wir nicht einsichtig werden. Außerdem ruft er uns nach Ochsenfurt vor das geistliche Gericht, wo wir uns verantworten sollen.«
Für einen Moment waren die Menschen auf dem Platz sprachlos. Die Ungeheuerlichkeit der Botschaft musste erst in die vielen Köpfe sickern, doch dann schäumte Entrüstung auf.
Bischof von Brunn wollte sie mit einer Kirchenstrafe belegen? Die Bürger der Stadt exkommunizieren? Ihnen Gottesdienst, Seelenmessen und Beichte verbieten? Die Kinder ungetauft in der Gefahr leben lassen, mit einem frühen Tod dem Teufel anheimzufallen? Die Alten und Todkranken ohne
Sakrament sterben lassen? Und dann wollte er sie auch noch vor Gericht zerren? Oh nein, dieser Bischof hatte ihnen nichts mehr zu sagen! Er war abgesetzt, hatte der Regierung entsagt und war nun nicht mehr ihr Herr. Sie waren nun Untertanen des Pflegers Albrecht, der zwar so manche Hoffnung noch nicht erfüllt hatte, sich aber redlich bemühte, auch die Lage der kleinen Leute zu verbessern.
Gret zog das Genick ein. »Könnt ihr es spüren? Da bricht gleich ein Gewitter über uns herein, wie wir es noch nicht erlebt haben.«
Jeanne sah zum blauen Frühlingshimmel hinauf. »Meinst du? Ich kann keine Wolken sehen.«
»Aber ich bereits den Donner hören«, sagte Elisabeth mit einem Zittern in der Stimme, und wie Gret sprach sie nicht vom Wetter.
Und dann brauste das Unwetter über den Platz hinweg. Es war im Gedränge schwer zu sagen, ob es sich durch eine bestimmte Person entzündete oder an verschiedenen Stellen gleichzeitig losging. Doch es glich einer Explosion, wie wenn sich Pulver in einem Behältnis entzündet. Ehe der Baiersdorfer und seine Männer reagieren konnten, waren sie plötzlich umringt. Sie versuchten noch, nach ihren Waffen zu greifen, doch die Klingen wurden ihnen entwunden, noch ehe sie sie aus der Scheide gezogen hatten. Unzählige Hände hielten sie fest. Faustschläge trommelten auf sie nieder. Einer der jüngeren Ratsherren riss dem Bürgermeister das Sendschreiben aus der Hand und zerriss es in kleine Fetzen.
»Das ist unsere Antwort auf diese Drohung!«, brüllte er mit hochrotem Kopf. Die Menge geriet in Bewegung. Sie wusste noch nicht, was sie nun tun sollte, aber klar war, der Zorn brauchte eine Abkühlung. Irgendetwas, an dem man seine Wut auslassen konnte. Am Rand der Menge standen einige Stiftsherren und Mönche der umliegenden Klöster.
»Da seht sie euch an, die Blutsauger und Verräter unserer
Stadt«, grölte einer der Häcker, und schon stürzten sich die Menschen auf die Vertreter der Kirche, die viel zu verdutzt waren, um sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Auch sie bezogen üble Schläge. Elisabeth sah, dass selbst einige Frauen auf die Mönche eindroschen.
Gret griff hart nach ihrem Arm. »Wir müssen versuchen, aus diesem Hexenkessel zu entkommen.«
Jeanne nickte mit kläglicher Miene. »Ja, ich finde das ganz schauderhaft und möchte mich keinesfalls an diesen Gewalttaten beteiligen.«
»Vor allem möchte ich verhindern, dass wir plötzlich zum Mittelpunkt eines dieser Ausbrüche werden – oder, genauer gesagt, unsere liebe Freundin, wenn sie jemand erkennt!«
Jeanne riss entsetzt die Augen auf. Dieser Gedanke war ihr offensichtlich noch nicht gekommen. »Heilige Jungfrau, ja, wir müssen Elisabeth beschützen. Aber wohin? Es ist kein Durchkommen.«
Nach allen Richtungen wogten die Leiber, und zur Franziskanergasse hin gab es schon gar kein Entkommen, da von Süden immer mehr
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