Das Archiv
war, daß die Komsomolzin Sonja, wie nicht weiter verwunderlich, mit Abstand die jüngste dieser Moskauer Lebensgemeinschaft des Jahres 1951 war, und der nächste Fünfjahresplan (war) noch weit entfernt. Junge, aber immerhin erwachsene Menschen, waren die übrigen acht Genossen in dieser Wohnung, keiner war über dreißig. Und auch in der Sowjetunion dieser Tage gab es ein Sexualleben. Autos als beliebte Kuschelplätze wie im dekadenten Westen gab es in der Welt Sonjas für normale Genossen nicht. Öffentliche Parkanlagen und ähnliches waren für schmusende Genossenpaare kein geeigneter Platz, denn die kommunistische Moral war hochgesteckt, und die Polizei wachte darüber. Wo sonst also sollten damals Jungkommunisten und innen sich lieben, oder wie immer man das nennen will. Wo sonst als in den Unterkünften. Auch wenn nur eine Ecke amtlich zugewiesen war und man sehr leise sein mußte. Alle waren sehr leise, sehr rücksichtsvoll. Nicht leise genug allerdings für eine Vierzehnjährige, wenn auch Komsomolzin, denn in diesem Alter scheinen gerade die Stille, das geflüsterte Gespräch, die erhöhte Atemtätigkeit, höchst interessant, verdächtig und erregend.
Sonja Tamara Beizin erlebte ihre ersten erotischen Eindrücke in dem verdunkelten Massenquartier dieser Moskauer Kommune. Rein akustisch. Der nächste Fünfjahresplan, der tatsächlich diese Quartiernot merklich linderte, kam für dieses sensible Mädchen zu spät. Um fünf Jahre zu spät.
Als Sonja ein eigenes Zimmer zugewiesen bekam, war sie schon zwanzig. Das war 1955, der kalte Krieg war eine alte Sache, und Genosse Molotow unterschrieb in Wien einen Staatsvertrag. Die Rote Armee würde Österreich verlassen, die feindlichen Verbündeten ebenfalls. Ein eigenes Zimmer: Genossin Sonja wurde dadurch in ihrem tiefen Glauben an den Kommunismus sehr bestärkt. Vier mal vier Meter im Quadrat, ein stattlicher Raum mit einem Fenster zur Minsker Straße. Otschin charascho. Es war eine vierräumige Neubauwohnung mit Küche und Bad. Hauptmieter war Genosse Tsebenko mit Frau, Schwiegermutter und vier Kindern. Sonja durfte das Bad benutzen, so stand es in der amtlichen Zuweisung. Wenn es frei war, natürlich.
Sonja arbeitete damals im Übersetzungsbüro des Ministeriums für Staatssicherheit in der Abteilung für auswärtige Angelegenheiten, Sektion für Deutsch und Holländisch. Sie trieb es arg mit Männern, und das hatte seinen besonderen Grund.
Zuerst war es Viktor von der afrikanischen Sektion. Sie ging ziemlich lange mit ihm, fast sechs Monate. Und kein einziges Mal konnte sie mit ihm dieses erregende Gefühl empfinden, das sie damals im Gemeinschaftsschlafraum fast jede Nacht hatte. Viktor hatte ein Zimmer in der Malinowskystraße, und wenn er fertig war und mit seiner Unterhose Sonjas Bauch abwischte, dann leise ins Bad schlich, um sich zu waschen, brauchte Sonja nur die Augen zu schließen, und die Erregung des Gemeinschaftszimmers war wieder da. Sie konnte das verhaltene Stöhnen der Pärchen hören, und in einer knappen Minute befriedigte sie sich so herrlich, daß sie der frischgewaschene Viktor überhaupt nicht mehr interessierte. Dabei war er ihr erster Mann. Als er anfing, sich über ihre Gefühlskälte zu beklagen, stöhnte und seufzte sie beim Verkehr mit dem Ergebnis, daß der gute Viktor sich zwei- und auch dreimal waschen gehen mußte. Aber Sonjas glückliche Minute war immer, wenn er im Bad war, nie mit ihm zusammen.
So konnte das natürlich nicht weitergehen, und Sonja schob die ganze Schuld auf ihren Viktor von der Afrika-Abteilung. Sie versuchte es mit Gregor, Eishockeytrainer von Dynamo Moskau. Auch Gregor hatte ein Zimmer. Als er keine Anstalten machte, sich zu waschen, fragte Sonja nach der Toilette. Sie zog die Wasserspülung, um lauter atmen zu dürfen, und der erregende Zauber war wieder da. Nach einer Minute schlüpfte sie zu Gregor ins Bett. Sie schwitzte ein bißchen, und der Gregor interessierte sie nicht mehr sonderlich. Das ging zweimal die Woche. Das Stöhnen und Seufzen hatte sie beibehalten. Niemand beschwerte sich mehr über Gefühlskälte. Nicht Evgenie, nicht Iwan und nicht Watscheslaw, den sie Waschku nannte. Auch nicht Igor, der verheiratet war und sie mit nach Hause nahm, wenn seine Olga Nachtschicht hatte. Olga arbeitete bei den städtischen Verkehrsbetrieben, und Autobusse müssen auch nachts fahren. Nachdem Sonja also ihr eigenes Zimmer hatte, sollte das anders werden. Sie bemühte sich ehrlich. Längst schon hatte
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