Das Archiv
sein. Noch einmal begann Bill zu suchen, diesmal an der anderen Seite des Raumes. Erleichtert fand er nach etwa einer halben Stunde, was er erwartet hatte: Eine Einschußöffnung in einem Buchrücken am Wandregal. Es war ein biographisches Staatshandbuch, Lexikon für Politik und Publizistik, erschienen 1951. Ein dicker Wälzer. Das deformierte Projektil war schräg eingedrungen und bis Seite fünfhundertsechsunddreißig gekommen. Hirt Oskar, geboren 1856 zu Neapel, gestorben 1901 zu Luzern, war Redakteur des dortigen »Vaterlandes«, las Bill geistesabwesend. Der Eindringling hatte also zuerst geschossen. Bill kannte seinen Freund. Herbert knallte doch keinen Menschen ab ohne zwingenden Grund. Bill setzte sich an das Tischchen, seine Stirn war feucht geworden. Das also war der Tatort, nach dem Hammerlang suchte.
War es nur dieser Tatort, auf den ihn Herbert in seiner letzten Minute aufmerksam machen wollte? Bill empfand auf einmal die Stille in diesem Raum wie einen Druck in seinen Ohren. Manchmal knackste das Holz leise, das war alles.
Herberts letzter Wunsch mußte einen anderen Grund gehabt haben. Um zu beweisen, daß er einen Menschen nur in Notwehr erschossen hatte, hätte ein Anruf bei Hammerlang genügt. Es mußte etwas anderes sein. Bill kramte in der Tischlade. Eine Menge Bleistifte und Kugelschreiber, Bleistiftspitzer, eine Schere, eine Rolle grüne Schnur, ein Taschenmesser, Schachteln mit Büroklammern und Reißnägel, ein Flaschenöffner, eine Kerze, eine Lesebrille. Alles sicher noch Sachen vom alten Rossmanek. Und viel Staub. Bills Fingernägel wurden schwarz davon.
Er ging hinaus in den Garten, es dämmerte schon. Die Lichter auf der Hauptstraße waren eingeschaltet. Er sah die Umrisse seines Autos, und daneben jetzt auch die eines anderen Wagens, es war ein Citroen. Wieder hatte er das Gefühl, etwas gesehen, aber gedanklich nicht registriert zu haben. Eine Kleinigkeit, die wichtig sein konnte. Es ging ihm wie in Herberts Wohnung in den ersten Tagen. Als ob ihm all die Gegenstände in seiner Umgebung etwas sagen wollten, als ob sie zu ihm redeten. Aber er konnte nichts hören, nichts verstehen. Er ging zurück in die Hütte und durchsuchte jeden einzelnen Winkel. Wegen der alten Zeitungen und Bücher wollte ihn Herbert sicher nicht hier haben. Es mußte etwas Wichtiges geben, das er finden sollte. Wenn er nur gewußt hätte, was!
Nach zwei weiteren Stunden war er erschöpft. Er hatte hinter die Bücher und Regale geleuchtet, in jeden Winkel, den Fußboden abgesucht, die Wände abgeklopft, das Bett zerlegt. Nichts. Eines allerdings wurde ihm klar: Hier hatte schon vor ihm jemand gesucht, ebenso gründlich wie er und vor nicht allzu langer Zeit. Die vielen Spuren im alten Staub waren deutlich zu erkennen. War es Herbert gewesen?
Er gab das Suchen auf und setzte sich wieder an den Tisch. Eine Zigarette. Vielleicht hatten die Burschen, die Herbert gekillt hatten, hier schon gesucht und gefunden, was ihnen einen Mord wert gewesen war? Er fand eine leere Konservendose, die er als Aschenbecher benützte. Mit Zigaretten mußte man hier vorsichtig sein, die Holzhütte mit dem vielen Papier würde brennen wie eine Fackel. Er lehnte sich zurück und legte die Beine auf den Tisch. Einige Bündel Zeitungen fielen auf den Boden. Es raschelte, dann plumpste es schwerer, eines der Bündel war kompakt und verschnürt. Bill sah das Ding am Boden liegen. Grüne Schnur?
Dieselbe grüne Schnur wie in der Tischlade, wie er sie schon im Kasten in Herberts Wohnung gesehen hatte. Warum sollte Herbert alte Zeitungen verschnüren. Wollte er sie mit nach Hause nehmen?
Bill nahm das Bündel und öffnete es. Zwischen den Seiten fand er Papierbögen. Hunderte von dünnen Papierbögen. Numeriert, datiert und eng beschrieben in Kurzschrift, sorgfältig, fast penibel.
Bill kannte diese Art Stenographie, es waren Rossmaneks Aufzeichnungen.
Das war es also, das mußte es sein! Er verschnürte das Zeitungspaket wieder. Das sah Herbert ähnlich, das war typisch für ihn. Kein Geheimfach, kein doppelter Boden. Ein Bündel alter Zeitungen in einem Berg anderer Zeitungen direkt vor der Nase auf dem Tisch, wer sieht da schon nach.
Es war schon zweiundzwanzig Uhr vorbei, als Bill die Hütte zusperrte und zu seinem Wagen ging, das schwere Zeitungspaket unter dem Arm.
Kein Mensch war zu sehen. Der Citroen stand immer noch da, einen Meter hinter seinem Opel.
Als er den Kofferraum aufsperrte und das Zeitungsbündel hineinfallen
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