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Das Archiv

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Titel: Das Archiv Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Frank
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sie es aufgegeben, die Schuld ihren Partnern zuzuschreiben. Die Partner wurden immer mehr, sie waren fast alle in Ordnung, und das Problem mußte wohl an ihr selbst liegen. Sogar einen Arzt wollte sie einmal aufsuchen, verwarf diesen Gedanken dann aber wieder. Schließlich war sie nicht krank. Eine Zeitlang war sie sehr unglücklich, hoffte noch auf ein Wunder, auf einen Wundermann, träumte häufig von ihm und hatte im Halbschlaf irrsinnige Höhepunkte. Aber wenn der Wecker läutete und sie wach wurde, war sie allein.
    Sie war also abnormal. So glaubte sie zuerst, in ihrer Depressionsphase. Aber war sie wirklich abnormal und wenn, war das ein Unglück? Schließlich konnte sie jederzeit und allerorts einen ganz großartigen Orgasmus haben und brauchte dazu nicht einmal einen Partner. Im Winter 1956 traf sie Major Fedor Kalinin, der fast immer Zivil trug, obwohl er Träger des Sternes am Roten Band war, wie alle in der Abteilung wußten. Fedor ging mit ihr Schlittschuhlaufen, und es gefiel ihm, wenn sie ihre Pirouetten drehte und doppelte Axel sprang. Schließlich war sie mit sechzehn Dritte der Jugendklasse gewesen.
    Fedor hatte tatsächlich eine eigene Wohnung. Eine kleine. Aber keine Spur von einer Frau in der kleinen Wohnung, und Sonja mußte nachts auch nicht heimmarschieren, so wie bei Igor, bevor Olgas Nachtschicht zu Ende ging. Fedor war damals fünfunddreißig, blond, groß, mit hellen Augen und einem Körper, so daß Sonja niemals das Licht ausdrehte.
    Er trank ziemlich viel, aber ohne sichtbare Wirkung, nur seine Augen wurden dann schmale Sehschlitze, und er konnte dann sehr grob sein – zu anderen –, niemals zu Sonja. Sie verliebte sich heftig in Fedor, stöhnte und seufzte lauter als je zuvor, aber es blieb bei ihren Kurzausflügen ins Bad oder sonstwohin.
    Das war aber schon zu der Zeit, als sie ganz zufrieden war mit ihrer absonderlichen Neigung. Es war eine schöne, eine großartige Zeit mit Fedor.
    Am!. Jänner 1957 wurde Fedor Kalinin zum Oberstleutnant befördert. Es wurde ausgiebig gefeiert, und Sonja trank zum ersten Mal mehr Wodka, als ihr guttat. Fedor wollte es so. Um vier Uhr früh sangen sie die Lieder von Mütterchen Schnee und den Abendglocken. Fedor konnte singen, daß einem die Tränen kamen. Um sechs Uhr lagen sie im Bett, und Fedor sagte ihr, daß er sie verlassen werde. Er mußte nächste Woche einen neuen Posten antreten. In Wien, Österreich.
    Auf dem XXI. Parteitag des Zentralkomitees der KPdSU im Jahre 1959 sagte Chruschtschow voraus, daß die Wirtschaftsleistung der USA von den Sowjets bis spätestens 1970 überflügelt werde, was der UdSSR den höchsten Lebensstandard in der Welt garantieren würde. Sonja Tamara Beizin war gerade dabei, diese aufsehenerregende Erklärung ins Holländische zu übersetzen, als sie von ihrer Dienstzuteilung an die sowjetische Botschaft nach Wien erfuhr. Sie war sicher, daß Fedor dahintersteckte. Solche Auslandseinsätze waren ohne Protektion auch im Paradies der Werktätigen ganz undenkbar.
    Genosse Duderow, ihr Abteilungsleiter, wünschte ihr viel Glück und alles Gute. Er blätterte in ihrer Personalakte und den Papieren über ihre Versetzung und war unschlüssig, ob er für sie Ersatz anfordern sollte; im Auftrag stand »bis auf weiteres«, das konnte ja auch viele Monate bedeuten. Andererseits waren Übersetzungen ins Holländische nicht gar so vordringlich. Er sagte zu ihr, er würde ihren Posten eine Weile freihalten. Zwei oder drei Monate oder so. Der Genossin Sonja war es recht.
    Nicht im Traum hätte Sonja damals gedacht, daß sie volle sechs Jahre in Wien bleiben würde.
    Über den XXII. Parteitag der KPdSU im Oktober 1961 las Sonja noch in der Prawda von der unausbleiblichen Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus. Sie empfand es damals noch seltsam, daß sich die Menschen in der Stadt Wien überhaupt nicht um diese unausbleibliche Ablösung zu kümmern schienen. Der ganze XXII. Parteitag berührte diese kapitalistisch verdorbenen Menschen offenbar kaum. Doch in den folgenden Jahren bedeuteten auch ihr die Parteitage und Parteiprogramme immer weniger und begannen – niemals hätte sie es für möglich gehalten –, sie zu langweilen.
    Wien war großartig, das Leben wunderschön und Moskau weit weg.
    Fedor war da und hatte sich nicht verändert. Er war nicht ihr Vorgesetzter, aber es stimmte natürlich, daß er ihre Versetzung persönlich empfohlen hatte. Der Oberstleutnant Kalinin leitete eine andere Abteilung, und Sonja

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