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Das Archiv

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Titel: Das Archiv Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Frank
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fragten sie ihn, antworten Juden auf Fragen gerne mit Gegenfragen? ›Warum sollten sie nicht?‹ antwortete Professor Blau.«
    Es dauerte eine Weile, bis Christa lachte. »Ich mag deine Geschichten«, sagte sie dann. »Du kannst bei mir bleiben.«
    Sie gingen zu Fuß, es war ja nicht weit. Den Wagen ließ er stehen, wo er war. Bill hinkte elendig, und Christa stützte ihn. Morgen könne er den ganzen Tag im Bett bleiben, meinte sie, besorgt wie eine Krankenschwester. Zwei Wochen lang habe sie jetzt Urlaub. Ihren Resturlaub müsse sie nehmen, sonst bekäme ihr Chef Schwierigkeiten mit der Gewerkschaft. Im Sommer wäre es ihr lieber gewesen.
    »Komm doch mit mir«, sagte Bill, »ich fahre für ein paar Tage weg.«
    »Wohin?«
    »Nach Triest. Ich habe dort was zu erledigen«, log er. Christa freute sich. Da käme sie also doch noch aus der Stadt hinaus in ihren freien Tagen. Sie habe nämlich kein Geld für eine Urlaubsreise, sondierte sie vorsichtig. Sie waren beim Haustor angekommen, und Christa wurde noch fröhlicher, als sie hörte, daß Geld keine Rolle spiele und sie für Bill morgen auch noch ein paar Sachen einkaufen solle. Einkaufen war ihre liebste Beschäftigung.
    Sie fuhr recht gut und hatte offenbar Freude am Autofahren, wie die meisten Menschen, die kein Auto besitzen. Zwischen Villach und Arnoldstein versuchte Bill zu fahren. Es hätte keine Schwierigkeiten gemacht, nur beim Kuppeln mit dem linken Fuß glaubte er jedesmal, vor Schmerzen aus der Haut fahren zu müssen. Man sollte nicht glauben, wie oft man auch auf freier Strecke das Kupplungspedal treten muß. Kurz vor Arnoldstein gab Bill schließlich auf.
    In Arnoldstein, an der österreichisch-italienischen Grenze, konnte Bill es vor Durst nicht mehr aushalten. »Bleib hier stehen und tank den Wagen auf, dann trinken wir was.« Er gab ihr Geld für Benzin, schleppte sich ins Espresso, bestellte zwei Flaschen Bier und hielt die neugierigen Blicke der Kellnerin auf sein malträtiertes Gesicht gelassen aus. Immerhin trug er eine dunkle Sonnenbrille, und weniger als die Hälfte des angerichteten Unheils war zu sehen. Dann telefonierte er mit Hammerlang: »Grüß Gott, Herr Polizeirat«, sagte er so fröhlich er konnte. »Nur um Mißverständnisse zu vermeiden, ich mache ein paar Tage Urlaub. Höchstens eine Woche, oder zwei, je nachdem. Nur daß die Polizei nicht auf dumme Gedanken kommt, wenn ich also nicht für sie erreichbar bin.«
    Wo zum Teufel er sei, wollte Hammerlang wissen. »In Villach«, log Bill, »und ich fahre nach Jugoslawien, nach Maribor«, log er weiter. »Besuche dort einen Freund.« Bill tat sich nicht schwer im Lügen.
    Hammerlang schien das nicht zu gefallen, er wollte eine Adresse in Maribor wissen und war ungehalten, weil es keine gab.
    »Besser, Sie lassen mich wissen, wo Sie zu erreichen sind, nur im Falle. Eben nur im Falle eines Falles.«
    »Ich lasse gleich von mir hören, sobald ich in Maribor abgestiegen bin«, log Bill weiter.
    Den Polizeirat schien dies wenigstens ein bißchen zu beruhigen. »Tun Sie das«, sagte er. Das war das Ende des Gespräches.
    An der Grenze gab es keine Schwierigkeiten, und Christa staunte über Bills amerikanischen Paß. Der Zollbeamte kramte in Bills neuen Hemden und in seiner Wäsche, die Christa gekauft hatte. Das verschnürte Paket alter Zeitungen schob er achtlos beiseite.

 

    IX
    Mit den sexuellen Empfindungen der Genossin Sonja Tamara Beizin hatte das eine eigene Bewandtnis. Die kleine Sonja war zu einer Zeit geschlechtsreif geworden, als der kalte Krieg als Konsequenz des zweiten Weltkrieges seinen Höhepunkt hatte. Die sozialistischen Errungenschaften in der Sowjetunion hinsichtlich Wohnkultur waren noch nicht so recht realisiert, mit anderen Worten, sie hatte in einer Moskauer Dreizimmerwohnung zu leben, die nach sowjetischem Plansoll neun Bürgern Unterkunft war. Das Mädel war zwar eine erstklassige Komsomolzin und kannte die jeweiligen parteioffiziellen Lebensläufe der großen Vorsitzenden Lenin und Stalin auswendig – von Karl Marx ganz zu schweigen. So etwas war gewissermaßen das Einmaleins in der Parteijugend. Das änderte jedoch nichts an der Tatsache, daß man sich in dieser Periode des laufenden Fünfjahresplanes bescheiden mußte: Wenn man Glück hatte, besaß man ein eigenes Zimmer. Die kleine Sonja, damals vierzehnjährig, hatte dieses Glück. Doch auch im Paradies der Werktätigen gab es kein Licht ohne Schatten und kein Glück ohne Trübung. Die betrübliche Tatsache

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