Das Archiv
er sehr nachdenklich. Bill wußte überhaupt nicht, um was es ging. »Was soll das alles?« fragte er. Hammerlang schien ihn nicht zu hören. »Sie hatten recht«, sagte er schließlich. »Es gab keine Verbindung zwischen ihrem Freund und Sednitzky.« Bill verstand nichts.
»Die Akte auf dem Schreibtisch enthielt eine Krankengeschichte des Unfallkrankenhauses Wien 12. Über einen Handknochenbruch Herbert Winklers, zugezogen bei einem Sturz aus der Straßenbahn am 8. Oktober 1975, also knapp drei Wochen vor dem Mord.«
»Ich wußte nicht, daß sich Herbert eine Hand gebrochen hatte«, meinte Bill, nur um etwas zu sagen. »Hat er auch nicht«, grinste Hammerlang. »Die Krankengeschichte ist erfunden. Von uns. Verstehen Sie jetzt?« Bill dachte nach. Der Graf war also in eine Falle gegangen. Er machte Angaben von dem Treffen mit Herbert, die nicht stimmten. Es war offensichtlich, daß sich die beiden nie getroffen hatten. Warum erzählte der Graf aber, Herbert habe ihn kontaktiert?
»Warum zum Teufel lügt Ihnen der Alte das alles vor?« fragte er.
»Eben. Warum wohl?«
Als Bill das Gebäude verließ, war ihm nicht gerade wohl zumute. Hammerlang war also beileibe kein Esel, und einen Moment lang dachte Bill daran umzukehren und die ganze Geschichte mit dem Archiv und Zwinker-Kilian zu beichten. Aber dafür war immer noch Zeit. Zumindest wollte er Erich Kilians Übersetzungen zuerst einmal genau lesen.
XIV
Die Straßenbahn war voll besetzt, erst nach zwei Stationen fand Zwinker-Erich einen Sitzplatz neben einer molligen Dreißigerin, die angenehm nach Parfüm duftete. Sie rückte demonstrativ von ihm ab und hielt das Gesicht abgewendet. Wahrscheinlich störte sie seine Rumfahne oder sein unrasiertes Gesicht oder noch Schlimmeres. So etwas passierte Erich Kilian in den letzten Monaten häufig. Schließlich kann ich nicht nach Veilchen duften, wenn ich Rum getrunken habe, dachte Kilian, aber er war nicht wütend, heute nicht. Im Gegenteil. Er hatte seinen Plan fix und fertig. Wenn nichts schiefging, würde er bald Geld haben, viel Geld. Dann konnte er sich all die Dinge leisten, die ihm im Leben stets unerreichbar waren. Einschließlich einer so duftenden Molligen wie die neben ihm. Am Amalienbad stieg er aus, seine Aktentasche unter dem Arm. Darin waren Waschzeug, ein Handtuch, ein frisches Wollhemd und ein maschinengeschriebener Brief, adressiert an Oberst Alexander Wolkow, Militärattaché der sowjetischen Botschaft in Wien, Reisnerstraße. Den Namen hatte Kilian aus einem Verzeichnis der akkreditierten Diplomaten in Österreich aus dem Jahre 1958. Sicher lebte der Genosse Wolkow schon lange nicht mehr in Wien; vielleicht war er General geworden oder auch schon gestorben. Erich Kilian wünschte ihm den General, er wußte, der Brief würde ihn nie erreichen, denn er war Teil seines Planes. In der Sauna rasierte sich Kilian vor einem Wandspiegel, schnitt sich zweimal, weil seine Hände so zitterten und verwünschte seine Alkoholsucht. Aber wenn er Geld hatte, brauchte er keinen Rum mehr zu trinken, sondern konnte sich ordentliches Zeug leisten, wie Cognac oder ähnliches. Eine Fußballmannschaft kam in die Sauna, mit Trainer und Masseur. Kilian betrachtete neidisch die muskulösen Körper, sah im Spiegel seine ausgemergelte Gestalt und dachte an Wilhelm Weiss. Der war so alt wie er, sah aber bei weitem besser aus; von ihm wandte sich keine Frau ab, auch wenn er nach Alkohol roch. Und er dachte an seine Jugend und daran, daß es eigentlich immer so war, schon immer war er der schwächliche Außenseiter gewesen. Er hätte vor zwanzig Jahren nicht dem Alkohol verfallen, sondern seinen Verstand benutzen sollen, um zu Geld zu kommen. Geld konnte vieles ausgleichen. Aber damals gab es für ihn nur die Partei, die Idee, den Idealismus. Und was hatte er jetzt davon? Aber es war noch nicht zu spät. Kilian ging von der Sauna zum Friseur, um sich die Haare schneiden zu lassen. Sechzig Schilling verlangte dieser Halsabschneider von einem Friseur. Er aber sah jetzt halbwegs zivilisiert aus, und auch das war Teil seines Planes.
In einem zweitklassigen Kaffeehaus bekam er einen erstklassigen Schwarzen mit doppeltem Rum. Er kippte den Rum in den Kaffee, dann schlürfte er das heiße Getränk und wartete auf die Wirkung. Zum hundertsten Male las er eine Seite seiner Übersetzung von Rossmaneks Stenogramm. Es war eine Eintragung unter dem Datum vom neunundzwanzigsten Juni 1958:
»Forelle stinkt. Treff mit dem Doppel
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