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Das Archiv

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Titel: Das Archiv Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Frank
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nicht verfehlen.«
    Bill nahm ihr die Tasche ab, sie war schwer. »Eilig habe ich es nicht«, meinte er, »wenn Sie mir den Weg zeigen?« Wirklich lieb fand das die Alte, und daß er ihr auch noch die schwere Tasche abnahm. Wohin er denn in der Sintstraße wolle? Sie wohne schon seit fünfzig Jahren in der Sintstraße. Leider müsse man in die Altmannsdorfer Straße zum Einkaufen gehen. In der Sintstraße gäbe es keine Geschäfte. »Ich habe ja niemanden«, sagte sie, »mir fällt das Schleppen der Tasche oft schwer.« So ein lieber Herr, der ihr dabei hilft. Na, so was sei ihr noch nie passiert. Ich habe ja niemanden, hatte die alte Frau gesagt, ich bin doch ganz allein auf der Welt.
    Den meisten alten Menschen geht das so, dachte Bill. Drei Kinder hatte die alte Frau, und sie war froh, daß ihr überhaupt jemand zuhörte. Zwei Söhne und eine Tochter. Der Erich, der war schon lange tot, seit 1947. Aus russischer Gefangenschaft war er heimgekehrt, zwei Monate später war er gestorben. An einem Hungerödem, wie der Doktor gesagt hatte. Ob der Herr auch beim Militär war? Im Krieg, wollte die alte Frau wissen. »Ja«, sagte Bill, er war; dann wüßte er ohnehin alles, meinte die alte Frau. Und da war noch Walter, aber der war ausgewandert, nach Kanada, in den fünfziger Jahren. Und die kleine Greterl, ja, die hatte geheiratet. Nach St. Polten. Einen Gendarmen hatte sie geheiratet. Zwei Enkerl. Aber St. Polten ist weit, nicht wahr, und dann, »wissen Sie, lieber Herr, man ist halt nicht gern gesehen, wenn man so alt ist.« Ob sich der Herr das vorstellen könne? Bill konnte. Er dachte plötzlich, daß er ja auch niemanden hatte. Schon seit zehn Jahren keinen Menschen mehr, mit dem er sprechen konnte. Reden ja, reden konnte man mit jedem, sogar mit der Alten hier, aber sprechen. »Trinken sie einen Tee mit mir?« hörte er sich plötzlich sagen, »ein Tee würde ihnen guttun.« Er hörte sich das sagen und dachte zugleich, soweit kommt es noch, daß ich mit der Alten auf einen Tee gehe, soweit kommt es noch. Er mußte sich umdrehen, er konnte diese aufgerissenen Augen in diesem furchigen Gesicht nicht mehr ansehen. Die schlaffen Lippen zitterten. »Wirklich, Sie wollen mich zu einem Tee einladen, wirklich?«
    Es kam also soweit. Und in seiner Wut auf sich selbst wurde Bill noch wütender, verwünschte seinen Egoismus, und er hätte sich selber anschreien mögen. Was war denn schon dabei, mit der Alten eine halbe Stunde zu sitzen. Ob er allein durch die Straßen lief oder sich mit der Alten unterhielt, irgend etwas Nichtssagendes mit ihr redete, wo lag schon ein Unterschied?
    Die Alte aber würde wochenlang daran zehren. Er führte sie also über die Straße in ein Gasthaus und bestellte zwei Tee. Die Alte roch nach Mottenpulver. In der Sintstraße Nummer fünf wohnte also Maria Sommer, eine Krankenschwester, mit ihrem kleinen Sohn Herbert, der schon zur Schule ging. Eine anständige Frau, hatte die Alte gesagt. Sehr anständig und ein guter Mensch, immer freundlich und hilfsbereit. Jeder wußte das in der Nachbarschaft. Jeden Sonntag ging sie mit dem Buben zur Kirche. Eine Art Heilige, mußte Bill denken, als er die Türklingel drückte. Und daran, wie sein Freund Herbert Winkler, alles andere als ein Heiliger, zu dieser Frau gekommen war. Und zu dem Buben.
    Maria Sommer sah auch aus wie eine Heilige. Sie hatte ein helles, offenes Gesicht, gütige Augen und war ein Mensch, dem man sofort sein Kind anvertrauen würde. Oder seine Brieftasche. Sie schien keineswegs überrascht, als Bill sich vorstellte. Mit einer Handbewegung lud sie ihn ein und führte ihn in ein kleines Wohnzimmer, das vor Sauberkeit blitzte. »Ich mach’ ihnen gleich Tee, Herr Weiss, oder Kaffee, wenn ihnen der lieber ist. Herbertl, sag dem Onkel Grüß Gott.« Ein kleiner Bub kam aus dem Nebenzimmer, verbeugte sich und sagte Grüß Gott. Er war lieb und blond, ein Vorderzahn fehlte ihm. Bill gab ihm die Hand. Kaffee wäre ihm lieber, sagte er. Ein kräftiger Schluck Schnaps wäre ihm jetzt noch lieber gewesen, aber daran war in dieser Umgebung nicht zu denken. Sie müsse erst den Buben zu Bett bringen, dann könne man reden, sagte sie. Es war, als habe sie seinen Besuch erwartet. Bill saß in einem bequemen Sessel, in der Küche klapperte Geschirr, und Kaffeegeruch machte sich breit. An den Wänden hingen Bilder und Fotos, und auf einem erkannte er seinen Freund Herbert. Herbert, ein Baby im Arm. Daneben die glücklich strahlende Mutti. Und wie

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