Das Archiv
habe, daß es mit Herbert ein böses Ende nehmen würde. »Wer die Gefahr sucht, kommt darin um«, sagte sie gelassen und ruhig, und doch klang es wie das Urteil eines Höchstgerichtes.
Dann aber wieder erzählte sie sehr amüsant von den vielen gemeinsamen Erlebnissen, die Bill und Herbert hatten, und die sie nun kannte, gerade so, als ob sie dabeigewesen wäre. Herbert mußte ihr eine Art Lebensbeichte abgelegt haben. Und sie lächelte und plauderte darüber, als ob es sich um Lausbuben-Streiche handelte.
»Ich hatte Sie sofort erkannt«, sagte sie, »ich hätte Sie unter tausend Männern herausgefunden, so genau hat mir Herbert von Ihnen erzählt. Das war damals, als er mich zu überzeugen versuchte, mein Verständnis verlangte. Ich verstand ihn immer, nur er verstand mich nie.«
»Ich verstehe Sie auch nicht«, sagte Bill bissig. Maria Sommer erzählte weiter, wie es zum endgültigen Bruch kam. Wie sie sich letztlich darauf einigten, daß Herbert nur einmal in der Woche seinen Sohn besuchen sollte. »Das war schon vor vier Jahren«, erklärte sie. »Ich hatte immer Angst, er könnte eine Gefahr für das Kind sein. Sein Tod hat mich nicht überrascht. Ich las es in den Zeitungen. Wer die Gefahr sucht, kommt darin um.«
Ein seltsames Gefühl kam in Bill auf. Er empfand einen ungeheuren Respekt vor dieser Frau, zugleich aber verachtete er sie. Was ihn am meisten bewegte, waren aber ihre Schilderungen über Herbert. Nicht, daß er an der Wahrheit zweifelte, diese Frau hatte sicher nicht gelogen. Aber da hatte man einen Freund, einen Menschen, mit dem man ein Leben lang zusammen gewesen war, den man so gut kannte wie sich selbst und mußte sich nun sagen lassen, ja beweisen lassen, daß dieser Mensch doch ganz anders war, als man glaubte.
Kann ein Mensch einen anderen jemals wirklich kennen? »Wann haben sie Herbert zum letzten Mal gesehen?« fragte Bill müde und im Tonfall eines vernehmenden Kriminalbeamten. Maria Sommer stand auf. »Ich wußte, daß Sie mich das fragen würden. Es war am letzten Oktobertag, einen Tag bevor er starb. An einem Freitag. Er besuchte den Buben und gab mir eine Tasche zur Aufbewahrung. Er bat mich darum.« Sie ging ins Nebenzimmer. Bill war plötzlich hellwach und erregt. Sie kam zurück und reichte ihm eine alte, abgetragene Plastikmappe. »Bitte gehen Sie jetzt«, sagte sie, »es ist schon spät.«
Eine abgetragene Plastikmappe mit Reißverschluß, zwanzig Jahre alt oder noch älter. Bill kannte dieses Exemplar. Es war eines der ersten Dinge, die man nach dem Krieg bezugscheinfrei kaufen konnte. Herbert hatte die Mappe ein halbes Leben lang mit sich herumgetragen. In den sechziger Jahren, als es ihnen finanziell gutging, hatte Bill seinem Freund eine Ledermappe geschenkt, die nach Juchten roch und federleicht war. Herbert hatte sich über das Geschenk gefreut. Drei Tage später vergaß er das Prachtstück im Schnellzug nach Salzburg, mit Rasierzeug, einem Presseausweis, ausgestellt auf den Namen Josef Huber, zwölf Schlüsselfeilen, einem Set Sperrhaken und einem Schlagring aus Aluminium. Besonders den Verlust des Schlagrings hatte Herbert noch wochenlang bedauert. Die alte Plastikmappe kam wieder zu Ehren.
Als Bill mit der Mappe zum Auto ging, hatte er das Gefühl, seinen Freund bei der Hand zu halten. Er fuhr eine Weile ziellos durch die Gegend, sah häufig in den Rückspiegel und parkte dann vor einem Gasthaus. Nach einem Glas Bier räumt er die Mappe aus und legte den Inhalt vor sich auf die Tischplatte. Es war nicht viel:
Zwei abgegriffene Notizbücher, ein österreichischer Reisepaß mit Herberts Foto, ausgestellt auf den Namen Josef Huber, ein Schlüssel.
Die Notizbücher glichen einander wie Zwillinge. Auch die Eintragungen schienen auf den ersten Blick gleich zu sein. Links waren fortlaufende Zahlen notiert, rechts von den Ziffern Namen eingetragen. Alles in der peinlich sorgfältigen Schrift von Ministerialrat Rossmanek. Es dauerte zwei Minuten, bis Bill begriff:
In dem einen Büchlein war neben der jeweiligen Zahl eine Deckbezeichnung notiert, im anderen neben derselben Zahl der Klarname. Es war das langgesuchte Codeverzeichnis des Archivs. Man mußte beide Notizbücher haben, um Herkunft und Informanten des Steno-Archivs feststellen zu können. Sicherlich hatte Rossmanek zu Lebzeiten die beiden Notizbücher getrennt aufbewahrt. Bill bestellte ein zweites Bier und spürte sein Herz klopfen. Er blätterte eine Weile in dem Klarnamenverzeichnis und fand schnell, was
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