Das Aschenkreuz
Karfreitag dieses Jahres, zum Kreuzestod des Herrn, einem von ihnen ein Wunder geschehen war. Und zwar eben hier zu Sankt Peter und Paul, wohin sich ihr Mitbruder Cyprian einst als Einsiedler zurückgezogen hatte. Genau zur dritten Tagesstunde, der Stunde, als Jesus Christus gekreuzigt wurde, waren diesem Cyprian an Händen, Füßen und an der Stirn die Wundmale erschienen. Wie ein Lauffeuer hatte sich diese Kunde über die Dörfer bis hinunter in die Stadt verbreitet. In der Klosterkirche der Wilhelmiten, die der Schneckenvorstadt als Pfarrkirche diente, ging eben die Feier vom Leiden und Sterben Christi zu Ende, und so waren die Menschen nicht mehr zu halten gewesen. Halb Freiburg war auf den Beinen, jeder wollte der Erste sein, dieses Wunder zu bestaunen.
Seit jenem denkwürdigen Tag hatte Bruder Cyprian, der bis dahin in seinem Bruderhäuslein bei der Kapelle kläglich von Almosen gelebt hatte, nichts mehr zu sich genommen außer Wasser und geweihten Hostien. Und er blieb weiterhin ein Auserwählter, den der Allmächtige mit Gnade durchgoss: Jeden Freitag während der Morgenmesse, die fortan einer der Wilhelmiten als Kaplan abhielt, war er aufs Neue mit den blutigen Wundmalen des Gekreuzigten gezeichnet. Längst hatte man den Bischof von Konstanz verständigt, der für den Besuch der Wallfahrtskapelle und für ein Almosen zum Wiederaufbau des Waldklosters alsbald einen päpstlichen Ablass verlieh.
Als sie jetzt das schmale Seitental erreichten, das sich entlang eines Baches tief in die steilen, dunklen Waldberge schnitt, wurden die Menschentrauben noch dichter. Vor dem kleinen Gotteshaus schließlich, das oben auf einer Anhöhe in frischem Anstrich erstrahlte, gab es kein Durchkommen mehr. Der ganze Hügel bis hinunter zum Bach war mit neugierigen Kirchgängern bedeckt.
«Da werden wir von dem Blutwunder rein gar nichts zu sehen bekommen, so wie sich die Leute hier drängeln», murrte Serafina und bereute schon, hier zu sein. Wesentlich lieber hätte sie sich irgendwo auf eine der Bergweiden gesetzt und Aussicht und Tag genossen.
«Keine Sorge, Serafina. Als Arme Schwestern dürfen wir hinein, wie die anderen Geistlichen auch.»
«Und was macht der Rest?»
«Die Türflügel bleiben offen, damit die Menschen die Messe mitfeiern können. Und hernach kommt Bruder Cyprian zu ihnen heraus.»
So geschah es. Während des Gottesdienstes, den, wie Grethe erläuterte, ein gewisser Pater Blasius hielt, Bursar der Wilhelmiten und Kaplan zu Sankt Peter und Paul, starrte Serafina gebannt auf den Einsiedler. Barfuß, in einer zerlumpten Kutte und mit verwildertem Haar und Bart, verharrte Bruder Cyprian reglos hinter dem Altar. Er hielt die ganze Zeit über den Kopf gesenkt, in seinem hageren Körper schien keinerlei Kraft mehr zu stecken. Da war der Kaplan, der die Messe las, schon das ganze Gegenteil. Nicht allzu groß, dabei kräftig und mit männlichem, gut geschnittenem Gesicht, aus dem die flinken Augen ein wenig hervortraten, sang, sprach und betete Pater Blasius mit einer solchen Leidenschaft, dass er Eis zum Schmelzen gebracht hätte. Den drei Nonnen, die neben Serafina knieten, liefen bereits die Tränen über die Wangen.
Grethe stieß ihre Freundin aufgeregt in die Seite, zum Zeichen, dass es bald losgehen würde. Serafina war mehr schlecht als recht des Lateinischen mächtig, es reichte gerade, dass sie ihre Gebete sprechen konnte. Doch immerhin verstand sie so viel, dass Pater Blasius nun aus der Passion zu lesen begann. Und sie musste zugeben, dass dieser Priester mit seinem gestenreichen Ausdruck, mit seiner zugleich volltönenden wie samtweichen Stimme etwas in ihr berührte.
Plötzlich ging ein Ruck durch den Körper des Eremiten. Er fasste sich mit lautem Stöhnen an die Stirn, als habe ihn dort ein stechender Schmerz getroffen, ballte die Hände zur Faust und hob den Kopf. Ein unterdrückter Aufschrei ging durch die Reihen der Anwesenden: Deutlich war ein blutiger Streifen unter seinem zotteligen Haaransatz zu erkennen. Dann trat er hinter dem Altar hervor, in das spärliche Licht, das die beiden schmalen Fenster hereinließen. Aus seinen nackten Fußrücken unter dem Kuttensaum quoll Blut, ebenso wie aus seinen Handflächen, die er nun in die Höhe reckte. Sein schmales, bleiches Gesicht, das mit den vorspringenden Wangenknochen und der Hakennase mehr einem Toten als einem Lebenden zu gehören schien, war schmerzverzerrt, die blutleeren Lippen öffneten sich zu einem unhörbaren Flehen und
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