Das Aschenkreuz
musste das heute ein wahrer Spießrutenlauf sein, war doch alle Aufmerksamkeit auf sie und ihre Familie gerichtet. Niemand schlenderte wie sonst üblich während der lateinischen Schriftlesung umher, um Freunde oder Handelsgenossen aufzusuchen, kein Gezänk, kein Lachen, ja nicht einmal Hundegebell war im Kirchenschiff zu vernehmen. Stattdessen ein stetes Tuscheln und Raunen, und manch einer entblödete sich nicht, mit dem Finger auf die Mutter des angeblichen Selbstmörders zu deuten.
Dass dem Tod des armen Hannes nicht gedacht wurde, hatte Serafina erwartet. Sein Name wurde nicht erwähnt, als wie jeden Sonntag die Namen der jüngst Verstorbenen verlesen wurden.
«Achtet nicht auf die Leute», hatte sie der Pfefferkornin gleich zu Beginn des Gottesdienstes gesagt. «Schwester Heiltrud und ich sind an Eurer Seite und werden mit Euch beten.»
Nach dem Evangelium machte sich der Pfarrer an seine Predigt, am Ende wie üblich in deutscher Sprache, und nicht nur Serafina hielt den Atem an. Man hätte eine Nadel auf den Kirchenboden fallen hören können, so still wurde es plötzlich. Was würde man über den schändlichen Frevler zu hören bekommen?
Ohne dass Hannes’ Tat auch nur mit einem Wort erwähnt worden war, ging es indessen weiter zum Credo und den anschließenden Fürbitten.
«Jetzt ist der Pöbel bitter enttäuscht», flüsterte Heiltrud ihr fast gehässig zu. «Geschieht ihm grad recht.»
Serafina nickte nur. Sie hatte das untrügliche Gefühl, dass Ratsherr Nidank dem Münsterpfarrer einen Maulkorb auferlegt hatte, aus welchen Gründen auch immer. Jedenfalls begann Walburga Wagnerin vor Erleichterung leise aufzuschluchzen, als nun die Eucharistiefeier einsetzte.
«Wenn Ihr wollt», bot Serafina ihr an, «begleiten wir Euch zur Kommunion.»
«Ja.» Die Frau wischte sich die Tränen aus den Augen. «Ich danke Euch.»
Als sich wenig später nach dem «Ite missa est» das Kirchenschiff leerte, stand die Pfefferkornin noch immer wie festgewurzelt in ihrer Bankreihe.
«Sollen wir Euch nach Hause bringen?», fragte Serafina.
Doch da trat der Kaufherr auf seine Ehegefährtin zu.
«Der Pfarrer möchte uns sprechen. Er wartet bei der Sakristei auf uns.»
«Geh nur schon voraus», erwiderte sie leise. «Ich komme gleich.»
Serafina legte ihr die Hand auf die Schulter.
«Lasst Euch vom Herrn Pfarrer nicht entmutigen. Jede Seele kann erlöst werden. Es gibt keine ewige Verdammnis. Gott ist nicht nur allmächtig, sondern auch gütig.»
«Er hat sich nicht umgebracht», sagte Walburga Wagnerin und ging schleppenden Schrittes in Richtung Sakristei davon.
«Keine Verdammnis – was soll das?», schnaubte Heiltrud, als sie allein waren. «Du redest schon daher wie unsre Adelheid.»
«Du hast es getroffen. Adelheid bringt aus ihren alten Büchern mancherlei Weisheiten zutage. Man muss nämlich nicht alles auf die Goldwaage legen, was die Kirche predigt, auch wenn sie es seit Jahrhunderten noch so oft wiederholen mag.»
Heiltrud schüttelte missbilligend den Kopf.
«Diese Adelheid bringt uns noch mal in Teufels Küche mit ihren ketzerischen Gedanken. – Und du auch!»
Draußen vor dem Münsterportal wären sie fast mit zwei schwarzgrau verhüllten Gestalten zusammengestoßen, die Stab und Klapper in den Händen hielten. Das verriet, dass sie zu den Siechen an dem Felde gehörten, die für immer ausgesondert draußen im Gutleuthaus lebten, an der Landstraße auf Basel zu, nur einen Steinwurf entfernt von der Richtstätte.
«Könnt ihr nicht aufpassen?», schnauzte Heiltrud und bekreuzigte sich. Auch Serafina war erschrocken zur Seite gesprungen, als sie in die Gesichter der beiden blickte: Ob Mann oder Frau, war nicht zu erkennen, ihre Mienen waren zu einer verschwollenen, knotigen Fratze entstellt.
Serafina war solch armen Menschenkindern schon einmal beim Kräutersammeln begegnet, vorgewarnt durch das Schlagen ihrer Klapper, denn eine Berührung mit den Aussätzigen konnte das Ende bedeuten: ein Leben in Gefangenschaft bis zum qualvollen Tod. An jenem Morgen war sie hin- und hergerissen gewesen zwischen Grausen und tiefstem Mitgefühl, als die beiden Frauen mit ihren tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen und den Rufen «Unrein! Unrein!» in großem Bogen an ihr vorübergeeilt waren. Von Konstanz kannte sie das nicht, dort war es den Aussätzigen verboten, in der Stadt betteln zu gehen. Stattdessen zog ein Klingler durch die Gassen, um die Almosen zu sammeln. In Freiburg indessen durften sie in
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