Das Attentat
Militärkrankenwagen, aus dem eine Bahre gezogen wurde. Auf einmal zog Anton mit einem Ruck den Vorhang zu und drehte sich um.
»Da sind sie«, sagte er ins Dunkel.
Im selben Augenblick wurde gegen die Tür geschlagen, und zwar mit dem Gewehrkolben und so unerbittlich laut, daß er wußte: es wird etwas Schreckliches passieren.
»Aufmachen! Sofort aufmachen!«
Er floh ins Eßzimmer. Seine Mutter ging in den Flur und rief mit bebender Stimme, daß sie nicht öffnen könne, da der Schlüssel weg sei, aber da wurde die Tür schon eingetreten und knallte gegen die Wand der Diele. Anton hörte, wie der Spiegel zu Bruch ging, der Spiegel mit den beiden kleinen geschnitzten Elefanten über dem kleinen Tisch mit den geschwungenen Beinen. Plötzlich waren im Flur und in den Zimmern überall bewaffnete Soldaten mit Helmen, eingehüllt in frostige Kälte standen sie da und waren alle viel zu groß für das Haus, das den Steenwijks schon nicht mehr gehörte. Geblendet von einer Taschenlampe hielt Anton sich einen Arm vor die Augen. Unter dem Arm hervor sah er auf einer Brust das blitzende Abzeichen der Feldjäger, an einem Koppel das längliche Etui einer Gasmaske, Stiefel, an denen Schnee klebte. Ein Mann in Zivil erschien im Zimmer. Er trug einen bis an die Knöchel reichenden schwarzen Ledermantel und einen Hut mit rundum heruntergeschlagener Krempe.
»Papiere vorzeigen!« schrie er. »Schnell, schnell, alles, alles!«
Herr Steenwijk erhob sich und zog eine Schublade des Buffets auf, während seine Frau sagte:
»Wir haben nichts damit zu tun.«
»Schweigen Sie«, schnauzte der Mann sie an. Er stand am Tisch und klappte mit dem Nagel des Zeigefingers das Buch zu, in dem Herr Steenwijk gelesen hatte.
»Ethica«, las er vom Einband ab, »more geometrico demonstrata. Benedictus de Spinoza. Ach so!« sagte er und schaute auf. »Solche Sachen liest man hier. Judenbücher!« Und dann zu Frau Steenwijk: »Gehen Sie mal ein paar Schritte hin und her.«
»Was soll ich tun?«
»Hin und her gehen! Sie haben wohl Scheiße in den Ohren!«
Anton sah, wie seine Mutter am ganzen Körper zitternd auf und ab zu gehen begann, im Gesicht das Unverständnis eines Kindes. Der Mann richtete die Taschenlampe, die der Soldat neben ihm in der Hand hatte, auf ihre Beine.
»Das genügt«, sagte er schnell – und erst viel später, zufällig, während seines Studiums, sollte Anton erfahren, daß der Mann geglaubt hatte, an ihrem Gang erkennen zu können, ob sie Jüdin sei oder nicht.
Herr Steenwijk stand mit den Papieren in der Hand da:
»Ich…«
»Nehmen Sie gefälligst den Hut ab, wenn Sie mit mir reden!«
Herr Steenwijk nahm die Melone ab und begann wieder:
»Ich…«
»Halten Sie das Maul, Sie verjudetes Dreckschwein.«
Der Mann studierte die Ausweise und Stammkarten und blickte dann in die Runde.
»Wo ist der vierte?«
Frau Steenwijk wollte etwas sagen, aber ihr Mann kam ihr zuvor.
»In seiner Aufregung über den entsetzlichen Vorfall«, sagte er mit bebender Stimme, »hat mein ältester Sohn jäh sein Elternhaus verlassen, ohne sich zu verabschieden – und zwar in dieser Richtung.« Mit seinem Hut deutete er auf ›Schöne Aussicht‹ wo Beumers wohnten.
»So«, sagte der Deutsche, während er die Papiere in die Tasche steckte, »hat er? Jäh, nicht wahr?«
»Allerdings.«
Der Mann machte eine Kopfbewegung.
»Abführen.«
Von diesem Moment an ging alles noch schneller. Ohne etwas mitnehmen zu dürfen, nicht einmal einen Mantel, wurden sie aus dem Haus gestoßen. Überall auf der Straße standen kunterbunt durcheinander Motorräder, Militärlastwagen und graue Personenwagen, und überall Uniformen, Geschrei und die tanzenden Lichtkegel der Taschenlampen. Einige Soldaten führten Hunde an der Leine. Der Krankenwagen war abgefahren, nur Ploegs Fahrrad war noch da. Und ein großer roter Fleck im Schnee. Irgendwoher hörte Anton wieder das gedämpfte Knallen von Schüssen. Er fühlte, wie seine Mutter nach seiner Hand tastete. Als er zu ihr aufblickte, sah er, daß sich ihr Gesicht, in dem das blanke Entsetzen stand, in das starre Antlitz einer Statue verwandelt hatte. Sein Vater hatte den Hut wieder aufgesetzt und sah, wie immer beim Gehen, zu Boden. Nur Anton selbst erfüllte diese Geschäftigkeit und dieses Treiben nach der Grabesstille der letzten Monate mit einem verzweifelten Wohlbehagen. Vielleicht war er auch nur von dem grellen Lichtbündel hypnotisiert, das ihn immer wieder blendete – aber endlich geschah etwas!
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