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Das Attentat

Das Attentat

Titel: Das Attentat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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als wollten sie es aufhalten, und unterhielten sich lachend.
    Ein Stück weiter hielt ein Lastwagen. Auf der offenen Ladefläche stand eine Gruppe frierender Männer. Sie hatten trotz der Kälte nur ihre Jacken an und wurden von Soldaten mit Maschinenpistolen im Anschlag bewacht. Im Licht des Feuers sah er die schwarzen Helme: die Soldaten waren SSMänner. Schreie, Befehle; jeweils zu zweit aneinandergefesselt sprangen die Gefangenen auf die Straße und verschwanden in der Nacht. Das Haus war vom Frost ausgetrocknet und brannte gierig wie eine alte Zeitung. Anton konnte sogar im Auto die Hitze der Glut spüren. Aus dem Fenster des auf der linken Seite des Hauses ausgebauten Dachbodens schlugen spitze Flammen: nun verschlang das Feuer zwar auch sein Zimmer, aber es wärmte ihn wenigstens etwas auf. Plötzlich schlugen die Flammen aus dem Dach und tauchten die Uferstraße wie bei einer Theatervorstellung in helles Licht. Er bildete sich ein, in diesem Moment etwas weiter hinten, zwischen den Autos, mit aufgelösten Haaren seine Mutter zu sehen, jemand rannte auf sie zu, es passierte etwas dort hinten, aber er konnte fast nichts erkennen. Außerdem: was war jetzt mit der Verdunkelung, jeden Augenblick mußten die Engländer das Feuer sehen und kommen… wenn sie doch nur kämen! Auf dem angeschrägten Brett, das auf eine Wandleiste über dem Erker geschraubt war, konnte er noch den eingebrannten Namen lesen: ›Freiruh‹. In den Zimmern, in denen es so lange so kalt gewesen war, loderte nun die Hölle. Überall fielen schwarze Schuppen auf den Schnee. Ein paar Minuten später krachte es donnernd in dem Inferno, und unter einer turmhohen Funkenfontäne stürzte das Haus ein. Die Hunde bellten, die Soldaten, die sich wärmten, sprangen zurück, wobei einer über Ploegs Fahrrad stolperte und der Länge nach auf die Straße fiel. Die anderen krümmten sich vor Lachen. Zur gleichen Zeit begann am anderen Ende der Straße ein Maschinengewehr zu rattern. Anton legte sich auf die Seite und rollte sich zusammen, die Handgelenke lagen gekreuzt unter dem Kinn.
    Als der Deutsche im langen Mantel die Wagentür öffnete und ihn auf der Bank liegen sah, stutzte er für einen Moment.
    »Scheiße«, sagte er.
    Anton mußte in den engen Zwischenraum hinter den Sitzen kriechen, wo er fast nichts mehr sehen konnte. Der Deutsche im langen Mantel setzte sich neben den Soldaten, der den Wagen fuhr, und zündete sich eine Zigarette an. Der Motor begann zu stottern, der Fahrer wischte mit dem Ärmel die beschlagene Scheibe ab, und Anton fuhr zum ersten Mal in einem Auto. Alle Häuser waren dunkel, auf den Straßen war noch immer kein Mensch zu sehen, nur hin und wieder eine kleine Gruppe von deutschen Soldaten. Die beiden Männer sprachen kein Wort miteinander. Sie fuhren nach Heemstede und hielten nach ein paar Minuten vor der Polizeiwache, vor der zwei Uniformierte patrouillierten.
    Das Wachlokal war warm und voll, die meisten Männer hatten eine deutsche oder eine niederländische Uniform an. Der Duft gebratener Eier ließ Anton sofort das Wasser im Mund zusammenlaufen, aber er sah niemanden essen. Alle rauchten richtige Zigaretten, und es gab elektrisches Licht. Anton wurde auf einen Stuhl vor dem hohen Kanonenofen gesetzt und von der Hitze wohlig umarmt. Der Deutsche sprach mit einem niederländischen Polizeikommissar und zeigte ab und zu in Antons Richtung. Erst jetzt konnte Anton ihn deutlich sehen – doch was er damals sah, 1945, ist nicht dasselbe wie das, was er heute sehen würde. Der Deutsche war ungefähr vierzig Jahre alt und hatte tatsächlich ein mageres, hartes Gesicht mit einem Schmiß unter dem linken Jochbein. Heutzutage ein komisch wirkendes Detail, mit dem nur noch Regisseure von drittklassigen Sado- und Witzfilmen arbeiten; in diese Schablonen der Kunst passen gerade noch die babyartigen Himmlergesichter. Doch damals ging es nicht um Kunst, damals sah der Deutsche tatsächlich aus wie ein ›fanatischer Nazi‹, und lächerlich wirkte das 1945 keineswegs. Er verschwand nach kurzer Zeit, ohne sich nach Anton umzusehen.
    Ein Hauptwachtmeister mit einer grauen Stalldecke über dem Arm kam herein und sagte zu Anton, er solle mitkommen. Auf dem Gang schloß sich ihnen ein zweiter Polizist an, er hatte einen Schlüsselbund in der Hand.
    »Was kriegen wir denn jetzt?« sagte er, als er Anton sah. »Sperren wir jetzt auch schon Kinder ein? Oder ist das ein Judenbengel?«
    »Frag nicht so viel«, antwortete der

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