Das Attentat
währenddessen eine flache ägyptische Zigarette aus einer Schachtel und klopfte sie auf dem Deckel fest, auf dem Anton ›Stambul‹ lesen konnte. Sofort reichte ihm ein Offizier ein brennendes Streichholz. Der General legte den Kopf in den Nacken, blies den Rauch senkrecht in die Luft, entließ den Fahrer mit einer Handbewegung und nahm Anton mit nach oben. Die anderen Offiziere flüsterten und lachten leise. Der General beugte beim Treppensteigen seinen kerzengeraden Rücken leicht nach vorne, mindestens in einem Winkel von zwanzig Grad, dachte Anton.
In einem großen Zimmer befahl er ihm mit ärgerlicher Gebärde, erst einmal all den Blödsinn auszuziehen. Er sähe aus wie ein Bengel aus dem Getto von Bialystok. Die Offiziere schmunzelten wieder. Während Anton tat, was ihm gesagt worden war, öffnete der General eine Tür und schnauzte etwas in ein Nebenzimmer. Die anderen Offiziere hielten sich im Hintergrund, einer setzte sich lässig auf die Fensterbank und zündete sich eine Zigarette an.
Als Anton vor dem Schreibtisch saß, kam ein hübsches, schlankes Mädchen herein; sie hatte blonde Haare, die an der Seite hochgesteckt waren, aber hinten lang herunterhingen, und trug ein schwarzes Kleid. Sie stellte ihm eine Tasse Kaffee mit Milch hin, auf dem Rand der Untertasse lag eine Tafel Milchschokolade.
»Bitteschön«, sagte sie auf niederländisch, »das magst du doch sicher.«
Schokolade! Er wußte fast nur noch vom Hörensagen, daß es so etwas gab – es war wie im Paradies. Aber noch hatte er keine Gelegenheit, sie zu essen, denn der General wollte nun hören, was passiert war, und zwar von Anfang an. Das Mädchen fungierte als Dolmetscherin. Dem ersten Teil der Geschichte, dem Bericht vom Attentat und vom Niederbrennen des Hauses – Anton fing kurz an zu weinen (aber es war alles schon so lange her) –, hörte er unbeweglich zu, strich sich nur hin und wieder behutsam mit der flachen Hand über das glattgebürstete Haar und mit den Fingerrücken über das glänzende Kinn, bei der Schilderung der weiteren Ereignisse jedoch glaubte er seinen Ohren nicht trauen zu können. »Na, so was!« rief er, als er hörte, daß Anton in eine Zelle im Keller einer Polizeiwache eingesperrt worden war. »Das gibt es doch nicht!« Daß in der Zelle noch jemand gewesen war, verschwieg Anton, und daß er danach zur Ortskommandantur gebracht worden war, konnte der General nicht begreifen. »Unerhört!« Gab es in Haarlem denn keine Kinderheime? Zur Ortskommandantur! »Das ist doch wirklich die Höhe!« Und der Ortskommandant hatte ihn mit einem Militärkonvoi nach Amsterdam geschickt, damit er zu seinem Onkel ging? Obwohl überall Tiefflieger herumschwirrten? Waren die denn vollkommen verrückt geworden in Haarlem? »Da steht einem doch der Verstand still! Das sind alles flagrante Verstöße!« Er hob die Hände und ließ sie flach auf den Schreibtisch fallen. Der Offizier auf der Fensterbank mußte über die theatralische Geste des Generals lachen, der daraufhin sagte: »Ja, lachen Sie nur.« Ob die Herren in Haarlem, fragte er Anton, vielleicht so aufmerksam gewesen wären, ihm eine Nachricht mitzugeben, oder seine Papiere, zum Beispiel.
»Ja«, sagte Anton – doch im gleichen Augenblick sah er wieder den Feldwebel, der den Briefumschlag in die Innentasche des Mantels gesteckt hatte, dorthin, wo eine halbe Stunde später die schreckliche Wunde war.
Als er wieder zu weinen begann, stand der General irritiert auf. Wegbringen und beruhigen. Und sofort Haarlem anrufen. Oder nein, laß die ruhig in ihrem eigenen Fett schmoren. Den Onkel holen und ihn den Jungen mitnehmen lassen.
Das Mädchen legte Anton eine Hand auf die Schulter und führte ihn aus dem Zimmer.
Als eine Stunde später sein Onkel erschien, saß er mit schokoladenbraunen Mundwinkeln im Wartezimmer und schluchzte noch immer. Auf seinem Schoß lag aufgeschlagen ein Signal Heft , die Zeichnung zeigte einen dramatischen Luftkampf. Sein Onkel warf die Zeitschrift auf den Boden, kniete neben ihm nieder und drückte ihn schweigend an sich, stand aber sofort wieder auf und sagte:
»Komm, Anton, weg von hier.«
Anton schaute in die Augen seiner Mutter.
»Hast du es schon gehört, Onkel Peter?«
»Ja.«
»Ich hab noch irgendwo einen Mantel…«
»Nichts wie weg hier.«
An der Hand seines Onkels, ohne Mantel, aber noch in beiden Pullovern, ging er hinaus in den Wintertag. Er schluchzte, aber er wußte kaum noch warum, ihm war, als würden mit den Tränen
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