Das Attentat
zwei Soldaten vorsichtig einen Mann herum. Es war Schulz. Seine Brust war nur noch ein Loch voller Blut und Fetzen, auch aus seiner Nase und aus seinem Mund floß Blut. Er lebte noch, aber sein Gesicht war so schmerzverzerrt, daß Anton spürte, daß er sofort etwas dagegen unternehmen müßte. Es war weniger der Anblick des Blutes als der Schwindel, ihm wurde plötzlich übel, und er wandte sich schwitzend ab. Er schob den Helm vom Kopf, lockerte den Schal und stolperte auf den vibrierenden Kotflügel zu, während er sich heftig erbrach. Fast im selben Augenblick ging der hinterste Lastwagen in Flammen auf.
Alles andere drang kaum noch zu ihm durch. Der Helm wurde ihm wieder auf den Kopf gedrückt, und jemand brachte ihn zu dem offenen Wagen. Der Offizier brüllte kurze Befehle, Schulz und die anderen Verwundeten, vielleicht auch Toten, wurden auf den dritten Lastwagen gelegt, alle anderen Soldaten mußten auf den ersten und zweiten. Ein paar Minuten später war die Kolonne wieder unterwegs, das brennende Auto blieb auf der Straße stehen.
Während Amsterdam immer näher kam, schrie der Offizier unaufhörlich über Antons Kopf hinweg den Fahrer an. Plötzlich fragte er Anton, wer er eigentlich sei, verflucht nochmal, und wohin er müsse. Anton verstand die Frage, aber der Atem ging ihm so stockend, daß er nicht antworten konnte, woraufhin der Offizier eine wegwerfende Gebärde machte und sagte, es sei ihm eigentlich auch scheißegal. Anton hatte ununterbrochen das Gesicht des Feldwebels Schulz vor Augen. Schulz hatte dicht neben dem Auto gelegen, ihn noch aus dem Fahrerhaus holen wollen. Es war seine, Antons Schuld, und nun würde Schulz bestimmt sterben…
Sie passierten eine Durchfahrt im Erdwall und fuhren in die Stadt. Ein Stück weiter, an einer Ecke, richtete sich der Offizier auf und gab den Fahrern der ersten beiden Lastwagen zu verstehen, daß sie geradeaus fahren sollten – für einen Augenblick sah Anton sein Erbrochenes auf dem Kotflügel des vorderen Wagens –, und winkte dem Chauffeur des dritten Wagens, ihm zu folgen. Einige Zeit fuhren sie an einer breiten Gracht entlang, sahen aber nur wenige Menschen; hin und wieder kreuzten sie eine Straße, in der zerlumpte Frauen und Kinder zwischen den verrosteten Straßenbahnschienen, wo sie die Steine herausgerissen hatten, etwas suchten. Über enge, stille Straßen mit verfallenden Häusern erreichten sie die Einfahrt des Westerhospitals. Das Hospital war eine Stadt für sich, mit Straßen und großen Gebäuden. Vor einer Baracke, an der ein Hinweisschild mit der Inschrift ›Lazarett‹ angebracht war, hielten sie an. Sofort kamen ein paar Krankenschwestern herausgelaufen, die ganz anders aussahen als Karin: Sie trugen bis zu den Knöcheln reichende dunkle Mäntel und viel kleinere weiße Häubchen, die ihre Haare wie Beutel zusammenhielten. Der Offizier und die Männer auf der hinteren Sitzbank stiegen aus, doch als Anton ihnen folgen wollte, hielt ihn der Fahrer zurück.
Zu zweit fuhren sie wieder in die Stadt. Mit bleierner Schwere im Kopf schaute sich Anton um. Irgendwann fuhren sie an der Rückseite des Rijksmuseums vorbei, wo er mit seinem Vater gewesen war, und kamen auf einen riesigen Platz, auf dem zwei gewaltige, quadratische Bunker standen. Der mittlere Teil des Platzes war abgesperrt. Am anderen Ende, genau dem Rijksmuseum gegenüber, stand ein Gebäude mit einer Lyra auf dem Dach, das aussah wie ein griechischer Tempel; unter dem Tympanon stand in großen Buchstaben: CONCERT-GEBOUW. Davor ein Bau mit der Aufschrift ›Wehrmachtsheim Erika‹, und links und rechts große, freistehende Villen, in einigen hatten die Deutschen offensichtlich Dienststellen eingerichtet. Vor einer der Villen hielt der Fahrer an. Ein Posten mit geschultertem Gewehr warf einen Blick auf Anton und fragte, ob dies etwa das letzte Aufgebot sei.
Auch in der Diele lachte man über ihn, den kleinen Jungen mit dem Helm und dem viel zu großen Mantel. Ein Offizier, der gerade die Treppe hinaufgehen wollte, machte dem ein Ende. Er trug glänzende Schaftstiefel und alle möglichen Tressen, Abzeichen und Bänder und um den Hals ein RitterKreuz. Vielleicht war er sogar General. Mit vier jungen Offizieren, die ihm auf den Fersen folgten, blieb er stehen und fragte, was das alles zu bedeuten habe. Anton konnte nicht verstehen, was der Fahrer, der Haltung angenommen hatte, antwortete, aber er berichtete sicher von dem Luftangriff. Der General hörte ihm zu, nahm
Weitere Kostenlose Bücher