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Das Attentat

Das Attentat

Titel: Das Attentat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Nachricht, daß auch Peter an jenem Abend erschossen worden war, kam erst im Juni, und da war es schon eine Botschaft aus prähistorischen Zeiten, mittlerweile unvorstellbar. Der Abstand von fünf Monaten, zwischen Januar 1945 und Juni 1945, war für Anton unvergleichlich viel größer als der zwischen Juni 1945 und dem heutigen Tag. Hinter dieser Verzerrung der Zeiträume verbarg sich später seine Unfähigkeit, seinen Kindern eine Vorstellung davon zu vermitteln, was der Krieg gewesen war. Die Familie war in eine Sphäre entwichen, an die er selten dachte, die aber manchmal – wenn er in der Schule aus dem Fenster schaute oder auf der hinteren Plattform der Straßenbahn stand – ganz unerwartet und bruchstückhaft vor ihm auftauchte: ein dunkler Ort und Kälte und Hunger und Schüsse und Blut, Flammen, Geschrei und Kerker, alles irgendwo tief in ihm fast hermetisch verschlossen. In solchen Augenblicken war ihm, als erinnerte, er sich an einen Traum, von dem er meist nicht viel mehr wußte, als daß es ein Alptraum gewesen war. Nur im Herzen dieser hermetischen Dunkelheit leuchtete manchmal wie ein Lichtpunkt eine Erinnerung auf: die Fingerspitzen des Mädchens auf seinem Gesicht. Ob sie etwas mit dem Attentat zu tun gehabt hatte und wie es ihr später ergangen war, wußte er nicht, wollte es auch nicht wissen.
    Auf dem Gymnasium war er weder ein guter noch ein schlechter Schüler, und nach dem Abitur studierte er Medizin. Über die Besatzung war viel publiziert worden, aber er las nichts über diese Zeit, weder Romane noch Erzählungen, und er ging auch nicht zum Reichsinstitut für Kriegsdokumentation, wo er vielleicht etwas über die Liquidierung von Fake Ploeg oder über die genauen Umstände von Peters Tod hätte erfahren können. Die Familie, zu der er gehört hatte, war unwiderruflich ausgerottet, und dieses Wissen genügte ihm. Das einzige, was er wußte, war, daß die Aktion nie in einem Prozeß zur Sprache gekommen war, denn dann hätte man ihn sicher als Zeugen vernommen. Auch der Mann mit dem Schmiß unter dem Jochbein war demnach nie aufgespürt worden (vielleicht hatte ihn noch die Gestapo aus dem Weg geräumt; wie auch immer, er ist von allen Beteiligten der Unbedeutendste). Er mußte damals mehr oder weniger eigenmächtig aufgetreten sein. Daß Häuser in Brand gesteckt wurden, in deren Nähe Nazis erschossen worden waren, war nichts Ungewöhnliches, daß jedoch auch die Bewohner hingerichtet wurden, das waren Terrormethoden, die eigentlich nur in Polen und Rußland praktiziert wurden – aber dort wäre auch Anton ermordet worden, selbst wenn er noch in der Wiege gelegen hätte.

2
    Aus der Welt allerdings sind die Dinge nicht so schnell. Es war im Jahr 1952, und Anton studierte im vierten Semester, als er Ende September eine Einladung zu einer Party bei einem Kommilitonen in Haarlem bekam. Seit er vor sieben Jahren mit einem deutschen Konvoi die Stadt verlassen hatte, war er nicht mehr dort gewesen. Zuerst wollte er nicht hingehen, aber die Einladung ging ihm den ganzen Tag durch den Kopf. Nach dem Mittagessen steckte er plötzlich den Roman eines jungen Haarlemer Autors ein, den er sich vor kurzem gekauft hatte, und fuhr mit der Straßenbahn zum Hauptbahnhof. Er fühlte sich wie jemand, der zum ersten Mal zu einer Hure geht.
    Am Erdwall fuhr der Zug unter einem riesigen Stahlrohr hindurch, das einen dicken grauen Schlammstrahl in den brachliegenden Torfstich spie. Der Lastwagen war nicht mehr da. Auf der Straße herrschte reger Verkehr, und auch die Straßenbahn fuhr wieder. Als der Zug an Halfweg vorbei war, sah Anton die Silhouette von Haarlem – der Prospekt war immer noch nicht viel anders als auf den Gemälden von Ruysdael, obwohl zu Ruysdaels Zeiten noch Wälder und Bleichen gewesen waren, wo später dann ihr Haus gestanden hatte. Aber der Himmel war derselbe, ein massives Gebirge, an das sich Balken aus mildem Licht lehnten. Was er sah, war eine Stadt, die anders war als die Städte sonst auf der Welt: Sie unterschied sich von anderen Städten so, wie er sich von anderen Menschen unterschied.
    Wer ihn in dem konfiszierten Wagen der Reichsbahn auf einer hellbraunen Bank der dritten Klasse sitzen und aus dem Abteilfenster schauen sah, sah einen großen, zwanzigjährigen jungen Mann, dem das glatte, dunkle Haar immer wieder in die Stirn fiel, so daß er es mit einer kurzen drehenden Kopfbewegung wieder nach hinten befördern mußte. Aus irgendeinem Grund hatte diese Bewegung etwas

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