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Das Attentat

Das Attentat

Titel: Das Attentat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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auch die Erinnerungen fortfließen. Seine andere Hand wurde kalt, er steckte sie in die Hosentasche, wo er etwas fand, das er nicht einordnen konnte. Er schaute nach: es war der Würfel.

Zweite Episode
1952

1
    Der Rest ist Nachspiel. Die Aschenwolke aus dem Vulkan steigt in die Stratosphäre, kreist um die Erde und regnet noch Jahre später auf alle Kontinente nieder.
    Als Anton ein paar Tage nach der Befreiung im Mai immer noch keine Nachricht von seinen Eltern und Peter hatte, fuhr sein Onkel morgens mit dem Fahrrad nach Haarlem, um zu versuchen, dort etwas über ihren Verbleib zu erfahren. Sie waren offenbar inhaftiert worden, obwohl dies trotz aller Repressalien unüblich war; doch selbst wenn sie in ein Konzentrationslager gebracht worden wären, nach Vught oder Amersfoort, hätten sie nun wieder frei sein müssen. Nur die Überlebenden aus den deutschen Lagern waren noch nicht zurückgekehrt.
    Anton ging an diesem Nachmittag mit seiner Tante in die Stadt, die aussah wie eine Sterbende, deren Gesicht plötzlich Farbe bekommen hat, die ihre Augen aufschlägt und wie durch ein Wunder wieder zum Leben erwacht. Überall hingen Fahnen in den farblosen Fensterrahmen, und überall waren Musik und Tanz und Ausgelassenheit in den überfüllten Straßen, auf denen zwischen den Steinen Gras und Disteln wuchsen. Blasse, abgemagerte Gestalten drängten sich lachend um dicke Kanadier, die statt der grauen, schwarzen oder grünen Käppis beige Baretts auf den Köpfen hatten und hellbraune Uniformen trugen, die nicht eisern und stramm am Körper saßen, sondern locker und bequem wie Freizeitkleidung und zwischen Mannschaften und Offizieren kaum sichtbare Unterschiede machten. Jeeps und Panzerwagen wurden angefaßt, als wären sie heilig, und wer englisch sprechen konnte, gehörte selber zu dieser himmlischen Macht, die auf die Erde gekommen war, und vielleicht bekam er sogar eine Zigarette. Jungen in Antons Alter saßen triumphierend auf Kühlerhauben, auf die ein weißer Stern in einem Kreis gemalt war, er selbst jedoch hielt sich zurück. Nicht, daß er sich um seine Eltern und Peter Sorgen gemacht hätte, an die dachte er nicht, aber das alles hier gehörte nicht wirklich zu seiner Welt – und würde auch nie dazu gehören. Seine Welt war die andere, die nun zum Glück ein Ende gefunden hatte und an die er nicht mehr denken wollte, die aber dennoch die seine war, so daß ihm alles in allem wenig blieb von der Welt.
    Etwa zur Abendbrotzeit kamen sie nach Hause, und er ging auf sein Zimmer, das schon ganz für ihn hergerichtet war. Sein Onkel und seine Tante waren kinderlos geblieben und behandelten ihn wie einen eigenen Sohn – und das heißt immer: mit mehr Zuwendung und mit weniger Ecken und Kanten als einen Sohn, der tatsächlich der eigene ist. Manchmal dachte er daran, wie es sein würde, wenn er wieder zu seinen Eltern zöge, nach Haarlem, aber der Gedanke verwirrte ihn so, daß er ihn schnell verscheuchte. Ihm gefiel es gut in der Arztwohnung an der Apollolaan, und zwar gerade deshalb, weil er sich nicht als Sohn des Ehepaares van Liempt fühlte.
    Sein Onkel klopfte wie immer an, bevor er ins Zimmer kam. Als Anton sein Gesicht sah, wußte er, welche Nachricht er brachte. Um den rechten Knöchel hatte er noch die Radfahrspange. Er setzte sich auf den Schreibtischstuhl und sagte, Anton müsse sich auf eine sehr traurige Nachricht gefaßt machen. Sein Vater und seine Mutter seien nie in Gefangenschaft gewesen. Sie seien am selben Abend erschossen worden, zusammen mit neunundzwanzig anderen Geiseln.
    Was aus Peter geworden war, wußte niemand, es gab also noch Hoffnung. Der Onkel war bei der Polizei gewesen, aber dort hatte man nur etwas über die Geiseln gewußt. Danach war er zur Uferstraße gefahren, zu den Nachbarn. Bei Aartsens, in ›Ruhehort‹, war niemand zu Hause, Kortewegs waren zwar zu Hause, hatten ihn aber nicht hereingelassen. Von Beumers hatte er es schließlich erfahren. Herr Beumer hatte es gesehen. Van Liempt ging nicht in die Details, und Anton fragte nicht danach. Er saß auf seinem Bett, die Wand links von ihm, und starrte auf die Flammen im grauen Linoleum. Er hatte das Gefühl, es schon immer gewußt zu haben. Van Liempt erzählte, Herr und Frau Beumer seien sehr froh gewesen zu hören, daß er, Anton, noch lebte. Er zog die Radfahrspange vom Knöchel und hielt sie in der Hand, sie hatte die Form eines Hufeisens. Es sei selbstverständlich, sagte er, daß Anton nun hier wohnen bleibe.
    Die

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