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Das Attentat

Das Attentat

Titel: Das Attentat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Schlüssel noch in der Tür steckte, schloß er ab und ging die Treppe hinauf.
    Takes stand im Zimmer und schaute nach draußen. Der Hörer lag auf der Gabel. Von draußen war Gejohle und das Heulen von Sirenen zu hören.
    »Hier ist der Schlüssel«, sagte Anton. »Unten stinkt es, der Aschenbecher hat angefangen zu schwelen.«
    Takes drehte sich nicht um.
    »Erinnerst du dich an den Mann, der gestern in der Gaststätte neben mir saß?« fragte er.
    »Und ob«, sagte Anton. »Das war ich.«
    »Der Mann auf der anderen Seite, mit dem ich mich unterhalten habe.«
    »Kaum.«
    »Er hat jetzt Selbstmord begangen.«
    Anton spürte, daß er nicht mehr viel vertragen konnte.
    »Warum?« flüsterte er, obwohl er gar nicht die Absicht hatte, so leise zu sprechen.
    »Er hat Wort gehalten«, sagte Takes, aber kaum noch zu ihm. »Als Lages 1952 begnadigt wurde, sagte er: ›Und jetzt lassen sie ihn auch noch laufen. Aber dann bringe ich mich um.‹ Und wir haben gelacht und gesagt, daß er dann wohl so alt wie Methusalem werden könnte…«
    Anton starrte eine Weile auf Takes' Rücken. Dann drehte er sich um und ging aus dem Zimmer. Der alte Mann in der Pyjamajacke war verschwunden. Hinter einer Tür sang im Radio eine schmelzende Stimme:
    Red roses for a blue lady…

Letzte Episode
1981

1
    Und dann… und dann… und dann… Die Zeit verstreicht. ›Das haben wir wenigstens hinter uns‹, sagen wir – ›aber was haben wir nicht noch alles vor uns?‹ Unserem Sprachgebrauch zufolge haben wir das Gesicht der Zukunft zugewendet und den Rücken der Vergangenheit, so erleben es die meisten. Die Zukunft liegt vor ihnen, die Vergangenheit hinter ihnen. Für dynamischere Persönlichkeiten ist die Gegenwart in aller Regel ›ein Schiff, das bei rauher See durch die Wellen der Zukunft pflügt‹, für passivere Menschen eher ein Floß, das auf einem Fluß ruhig mit der Strömung treibt. Beide Vorstellungen haben – natürlich – ihre Tücken, denn wenn die Zeit eine Bewegung ist, dann muß sie sich in einer zweiten Zeit bewegen, und so entsteht eine unendliche Anzahl von Zeiten – eine Szenerie, die den Denkern eher mißfällt, aber die Phantasien des Gefühls richten sich nun einmal nicht unbedingt nach dem Verstand. Wer seine Zukunft vor sich und die Vergangenheit hinter sich hat, geht mit der Zeit auf andere – und ebenfalls schwer zu begreifende – Weise um: für ihn sind die Ereignisse schon in der Zukunft irgendwie gegenwärtig, erreichen in einem bestimmten Moment die Gegenwart, um schließlich in der Vergangenheit zur Ruhe zu kommen. Aber es ist nichts in der Zukunft, sie ist leer, und im nächsten Moment kann man gestorben sein und hat sein Gesicht also dem Nichts zugewendet, obwohl doch gerade hinter einem etwas zu sehen war: die Vergangenheit. So, wie sie das Gedächtnis aufbewahrt hat.
    Darum sagen die Griechen, wenn sie von der Zukunft sprechen: »Was haben wir nicht noch alles hinter uns« – und in diesem Sinne ist Anton Steenwijk Grieche. Auch er stand mit dem Rücken zur Zukunft und mit dem Gesicht zur Vergangenheit. Wenn er über die Zeit nachdachte, was er manchmal tat, sah er die Ereignisse nicht aus der Zukunft kommen und durch die Gegenwart in die Vergangenheit gleiten, sondern aus der Vergangenheit kommend sich in der Gegenwart entwickeln und auf eine ungewisse Zukunft zubewegen. Dabei mußte er jedesmal an einen Versuch denken, den er bei seinem Onkel auf dem Dachboden unternommen hatte: künstliches Leben! In eine Lösung aus Wasserglas (der schleimigen Flüssigkeit, in der seine Mutter Anfang des Krieges Eier konserviert hatte) ließ er ein paar Kristalle Kupfersulfat fallen – Kristalle von einem unvergeßlichen Blau, das er Jahre später in Padua in den Fresken von Giotto wiedergesehen hatte –, die sich daraufhin wurmartig auszubreiten begannen, osmotisch wucherten, weiter austrieben und dann auf einem Bord seiner Mansarde in immer länger werdenden blauen Verästelungen wie Adern die leblose Blässe der Wasserglas-Lösung durchzogen.
    In Padua war er auf seiner Hochzeitsreise gewesen, mit seiner zweiten Frau, Liesbeth. Das war 1968, ein Jahr nach seiner Scheidung von Saskia. Liesbeth studierte Kunstgeschichte und hatte eine Teilzeitstelle in der Verwaltung des hypermodernen Krankenhauses, in dem er damals arbeitete – und in dem nichts klappte (abgesehen davon, daß er dort mehr verdiente). Ihr Vater hatte kurz vor dem Krieg geheiratet und war als junger Verwaltungsbeamter nach

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