Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Attentat

Das Attentat

Titel: Das Attentat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
Vom Netzwerk:
sich ein Mensch in Abfall. Er richtete sich auf, alle richteten sich schweigend auf, die Apparate wurden abgestellt, mit der einen Hand nahm er das Mundtuch ab, mit der anderen die Operationshaube, und schlurfte mit leicht schräg geneigtem Kopf aus dem Operationssaal.
    An einem heißen Tag in Italien geriet er plötzlich in eine Krise, die nicht nur der Höhepunkt, sondern zugleich auch das Ende dieser sorgenvollen Monate sein sollte.
    Da der Metzger im Dorf immer nur Kalbfleisch vorrätig hatte, war Liesbeth morgens mit Peter nach Siena gefahren. Sonst erledigte er die Einkäufe in der Stadt meistens selber, und sei es nur, um sich eine Zeitlang auf den Terrassen des Campo herumzutreiben – der unvergleichlichen, jahrhundertealten Muschel, die bewies, daß es auch in der Baukunst keinen Fortschritt gab! – doch an diesem Morgen fühlte er sich nicht wohl und blieb zu Hause. Er hatte eine Weile gelesen, als ihn die Stille plötzlich vom Buch aufschauen ließ. Sein Blick fiel auf das weiße, würfelförmige Tischfeuerzeug, das er von Liesbeths Eltern bekommen hatte. Ruhelos begann er durch die unregelmäßigen, weißgekalkten Zimmer zu irren, ging die Wendeltreppe mit den ungleichmäßigen Stufen hinauf und hinunter und versuchte ab und zu, sich hinzusetzen, doch dann wurde es noch schlimmer, so daß er sofort wieder aufstand. Doch was wurde schlimmer? Er hatte keine Schmerzen, kein Fieber, alles war in Ordnung, und zugleich war nichts in Ordnung. Er wollte, daß Liesbeth und Peter zurückkamen – sie mußten sofort zurückkommen! In ihm ging etwas vor, das er nicht begriff; gehetzt lief er zum Rand der Terrasse, der Feldweg lag verlassen da und verschwand hinter dem Hügel und der zerfallenen Mühle in der Tiefe. Er lief ins Haus, ging durch die Haustür wieder hinaus und stieg die steilen Stufen hinauf zur Straße, die in Dachhöhe am Haus vorbeiführte. Vielleicht gingen sie noch ein Stück spazieren. Das Auto stand nicht auf seinem Platz. Der Marktplatz, baumlos und viel zu groß für das Dorf, schien mit kochendem Wasser übergossen worden zu sein. Er sah einen alten Mann und eine alte Frau, beide waren schwarz gekleidet; im dunklen Schlagschatten der Kirche saßen ebenfalls ein paar alte Männer, doch nur der Mann und die Frau gingen durch die Sonne: zwei verkohlte Gestalten im gleißenden Licht.
    Und während er an der Straße stand, erhob sich ein grauer Berg und stürzte wie eine Flutwelle über ihn hinweg. Er sprang die Stufen hinunter, schlug die Haustür hinter sich zu und schaute sich zitternd um. Die reglosen, weißgetünchten Wände schrieen ihm ihr Weißsein ins Gesicht, die Spirale der Treppe, der rohe Holzbalken, alles hatte sich in Gefahr verwandelt, die etwas in seinem Gehirn verwirrte; der Felsen brach durch den Kalk und in seinen Kopf ein. Er ging mit vor die Brust gepreßten Händen zur Terrasse: die Zypressen, überall auf den Hügeln Zypressen – Flammen aus schwarzem Feuer. Er merkte, daß seine Zähne klapperten, klapperten wie die eines Kindes, das frierend aus dem Wasser kommt, aber er konnte nichts dagegen tun. Es ging etwas vor mit der Welt, nicht mit ihm, die Zikaden zirpten, keuchend ging er wieder ins Haus. Das Rot der Fliesen! Über dem offenen Herd sein alter Spiegel, der mit den Putten. Die schwarzen Augen des Würfels. Er wußte, daß er sich beherrschen mußte, nicht durchdrehen durfte, damit ihm die Sache nicht über den Kopf wuchs. Er setzte sich an den Tisch, auf einen rechtwinkligen Stuhl mit aufrechter Lehne, setzte sich auf den etwas zu kleinen italienischen Stuhl mit geflochtenem Sitz, verbarg Nase und Mund in den Händen, schloß die Augen und versuchte, sich zu entspannen.
    So fand ihn einige Zeit später Liesbeth: unbeweglich, aber zitternd wie ein Standbild bei einem Erdbeben. Als sie den Blick seiner Augen sah, fragte sie nicht lange, ob sie den Arzt holen sollte. Anton schaute Peter an und versuchte zu lachen. Dann sah er die volle Einkaufstasche, die Liesbeth auf den Tisch gestellt hatte. Obenauf lag ein Päckchen: das Papier löste sich, entfaltete sich wie eine Blume und enthüllte einen blutigen Klumpen Fleisch.
    Der Arzt kam sofort – und mit der größten Selbstverständlichkeit, als dürfe man sich über solche Dinge nicht wundern, gab er ihm eine Spritze, nach der er fünfzehn Stunden lang schlief und am nächsten Morgen erfrischt aufwachte. Das Rezept für Valium, das er bei einem Rückfall einnehmen sollte, zerriß er sofort. Und zwar nicht, weil er

Weitere Kostenlose Bücher