Das Auge Aldurs 3 - Der Riva Kodes
besiedelt. Um Streitigkeiten oder womöglich offenes Blutvergießen zu verhindern, das eine solch muntere Mischung leicht hervorrufen könnte, haben die Sendarer eine komplizierte und peinlich genau befolgte Etikette entwickelt. Nie wird die Rasse oder Religion einer Person erwähnt, und offene Missionierung für irgendeinen Gott wird als schlimmste Form gesellschaftlicher Entgleisung betrachtet. Sendarer reden über die Ernte, das Wetter, Steuern und andere alltägliche Dinge, aber nie über Rasse oder Religion. Sie sind eigensinnig, praktisch, und ihr Königreich hat eine positive Handelsbilanz, so daß die Steuern (über die sie sich trotzdem alle beklagen) außergewöhnlich niedrig sind. Durch einen glücklichen Zufall hat das Völkergemisch in Sendarien einen Menschenschlag hervorgebracht, der die besten Züge jeder Rasse und nur wenige unerfreuliche Eigenarten in sich vereint. Wie die Alorner sind sie hartgesotten und stark; aber anders als diese sind sie nicht über Gebühr streitsüchtig und prahlen. Sie besitzen die Tapferkeit der Arender, nicht aber deren melancholisches Gemüt und ihren reizbaren, starrköpfigen Stolz. Sie verfügen über den Geschäftssinn von uns Tolnedrern, aber nicht über unseren (wir wollen ehrlich sein) verzehrenden Drang zu immer höheren Gewinnen, der gelegentlich rer dazu treibt, zu manche Tolned Praktiken Zuflucht zu n esagt – moralisch nicht ehmen, die – offen g vertretbar sind. Sendarer sind wie Drasnier peinlich auf Ehrlichkeit bedacht, wissen sie doch, daß ihre zufällige geographische Lage ihnen ungeheure Vorteile verschafft.
DIE GESCHICHTE SENDARIENS
Im Gegensatz zu den anderen Königreichen des Westens setzt Sendariens Geschichte nicht in der dämmrigen und ungewissen Vorzeit einer fernen Vergangenheit ein. Obwohl das Gebiet seit urdenklichen Zeiten bewohnt ist und abwechselnd von Arendien, Algarien, Cherek und sogar Tolnedra beansprucht wurde, wurde die moderne Nation, wenn man so will, geschaffen: im Jahre 3827 von Kaiser Ran Horb II. aus der Ersten Horbitischen Dynastie, und zwar als Ausweitung des tolnedrischen Einflußbereichs im Norden. Durch die Gründung Sendariens schuf der Kaiser einen Pufferstaat zwischen Algarien und Arendien, wodurch er verhinderte, daß die mimbratischen Kaufherren, die nach der Vernichtung der asturischen Arender einen ungeheuren Aufschwung erlebten, sich Handelsvorteile verschafften.
Mangels eines in der Region angestammten erblichen Adels sahen die Sendarer sich gezwungen, eine Wahl abzuhalten – die erste in der Geschichte bekannte Wahl, die nach allgemeinem Wahlrecht stattfand. Nach entsetzlich langwierigen und verzwickten Auseinandersetzungen über die Besitzvoraussetzungen zur Teilnahme an der Wahl entschlossen sich die zutiefst praktisch veranlagten Sendarer, einfach jeden wählen zu lassen. Als sich die Frage des Frauenwahlrechts ergab, weiteten die Führer der Gemeinschaften das Stimmrecht schlicht auf alle aus. Man geht allgemein davon aus, daß Eltern die Stimmzettel ihrer unmündigen Kinder abgaben; davon abgesehen jedoch scheint dieses einzigartige Experiment mit einem Minimum an Wahlbetrug über die Bühne gegangen zu sein.
Unglücklicherweise traten beim ersten Wahlgang 743 Kandidaten an, wo die Stimmenzahl von acht (für einen Bauern namens Olrach, der im Norden des Landes wohnte) bis zu mehreren Tausend für eine Reihe wohlhabender Landbesitzer aus der Gegend des Sulturnsees reichten.
Die Wahl dauerte insgesamt sechs Jahre und wurde eine Art Freizeitsport der Sendarer. Mit erstaunlich guter Laune fuhren die Sendarer fort, Wahlgang um Wahlgang abzuhalten, bis erschöpfte Kandidaten aus lauter Überdruß ihre Kandidatur zurückzogen. Am Ende, im dreiundzwanzigsten Wahlgang im Frühling des Jahres 3833, war jedermann baß erstaunt, daß tatsächlich jemand eine dünne Mehrheit erhalten hatte. Nationale Führer, Wahlorganisatoren und eine Reihe von Personen, die sich Stellungen am neuen Hof erwarteten, warfen sich in ihren Sonntagsstaat und strömten in ein kleines Bauerndorf am Ostufer des Eratsees in Nordsendarien. Dort fanden sie ihren gewählten König vor, einen Kohlrübenbauern namens Fundor, der tatkräftig seine Felder düngte.
Der Trupp der Würdenträger stapfte über den Acker auf ihren neuen Monarchen zu. Als sie ihn erreichten, begrüßten sie ihn mit dem lautem Jubelruf: ›Heil, Fundor der Prächtige, König von Sendarien!‹ und sanken vor seiner ehrfurchtgebietenden Persönlichkeit auf die
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