Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
und stützte sich mit beiden Händen ab.
„Du bist der seltsamste Engländer-Amerikaner, der mir je untergekommen ist.“
Aufmerksam musterte sie sein Gesicht und blieb in den grünen Augen hängen. Der besondere Abend, das spürte sie, war noch nicht vorüber. Der Abend, dem sie ihr Kleid widmete. Nur wandelte sich ihr Begehren in der Sekunde, als dieser undurchsichtige, mysteriös melancholische Fremde an ihren Tisch getreten war. Kein gewöhnlicher Mann, oder, wenn sie recht überlegte, ein gewöhnlicher Mann und ein ungewöhnlicher.
„Hat dir schon jemand gesagt, dass du den Eindruck erweckst, man hätte es bei dir gleichzeitig mit zwei verschiedenen Typen zu tun?“, fragte sie keck.
„Ja. Deirdre Cullom. Mit exakt diesen Worten.“
Enttäuschung flog über ihr Gesicht.
„Deine Freundin?“
„Gewesen“, sagte er. „Sie konnte sich nicht entscheiden.“
Sie rückte näher an ihn heran, verharrte, ihre Hand Zentimeter von seiner entfernt, ihre Augen in seine versenkt. Ihr Mund trocknete aus. Mein Gott, wie kindisch, dachte sie.
„Sag es“, munterte er sie auf und legte seine Hand auf ihre.
„Ich will dich küssen.“
„Such dir einen Typen aus.“
„Ich nehm beide.“
Der Schatten, der Minuten zuvor vom Balkon verschwunden war, schlich nun durch den Flur, auf Leonards Zimmertür zu.
Kapitel 25
Aufzeichnungen des Reverend Willet, 15. April 1888
„Die Legende, die mir ein Heiler unten in Thenasserim erzählte, handelt von einem alten Volk. Sie nannten sich selbst die Tu-lo-chu. Andere bezeichnen sie als Chu-Po oder Pyu. Niemand weiß, woher sie kamen, Tibet, aus der Mongolei oder vielleicht Yünan. Oder sie gingen aus einer der älteren Kulturen Nordburmas hervor. Und sie handelt von ihrem ersten Herrscher, Thian-o-Li.“
Schon bei diesen, meinen ersten Worten zeigte sich Captain Conley innerlich aufgewühlt. Wir saßen allein auf der Veranda seines Bungalows. Stets sorgte er dafür, wenn die Sprache auf seine Zeichnung kam, dass niemand sonst in der Nähe war. Er forderte mich auf, die ganze Geschichte zu erzählen. Währenddessen notierte er hin und wieder ein paar Worte auf ein einzelnes Blatt.
Eines Nachts, fuhr ich mit der Legende fort, hörte Thian-o-Li, wie jemand seinen Namen rief. Niemand sonst, nur er selbst vernahm die Stimme. Und er folgte ihr. Drei Tage und Nächte wanderte er, dem Ruf folgend, bis an den Fuß eines Berges. Von dort oben wehte sie herunter, die unhörbare Stimme. Die Bewohner eines Dorfes am Berg warnten ihn. Niemand, der auf den Gipfel ging, kam je wieder herunter. Man sagte, dort oben öffne sich das Tor zur Ewigkeit und jeder, der es durchschreitet, würde nicht mehr in diese Welt zurückfinden. Thian-o-Li ignorierte die Warnung und machte sich an den Aufstieg. Zwei ganze Tage kämpfte er sich den steilen Weg nach oben, bis über die Schneegrenze, immer das Rufen in seinen Ohren. Unterhalb des Gipfels, am dritten Tag, fand er den Zugang zu einer Höhle. Dort drinnen! Er überwand seine Angst, womöglich für immer aus dieser Welt zu verschwinden. Und tief im Berg saß eine alte Frau, die Haare bis zum Boden gewachsen, die Haut über ihre Knochen gespannt. Sie verrottete dort seit Jahrhunderten, die Augen zu Eis erstarrt, den Mund geöffnet, eine Hand ausgestreckt, alles menschliche aus ihren Zügen gelöscht. Dennoch sprach sie zu ihm, ohne die kalten Lippen zu bewegen. Ich, das Weib Gujatis, der aus der Hand des Arahats Ananda empfing, was er verwahren sollte, beschritt den Weg der Finsternis. Verdammt bin ich, die ich den Gatten getötet und gestohlen habe, was der Zeit gehört.
Thian-o-Li, stumm vor Schrecken, sah mit Grauen, wie sich ihre Klaue öffnete und einen Stein preisgab, nach Farbe, Form und Härte wie der reinste Diamant. Alle meine Kinder sahen vor ihrer Zeit das Unabwendbare. Alle wurden mir genommen, selbst die Kinder der Söhne meiner Söhne. Ich, selbst schon im Reich der Toten, sah sie alle sterben. Thian-o-Li, der du der Letzte bist in der Linie meines Blutes. Nimm die Träne des Schwarzen Buddha und erlöse mich, stöhnte sie. Dir und den Deinen soll sie dafür Glück bescheren. Aber denke daran, daß nichts für ewig und alles unabwendbar ist. Er nahm den Stein an sich und floh, bevor die Höhle über ihm zusammenstürzte. Der Schamane ihres Stammes sagte ihm, in dem Stein seien die Zeit, das Wissen und die Macht. Seit dem Tag seiner Rückkehr litt sein Stamm nie eine Not. Sie häuften ungeheure Reichtümer an. Thian-o-Li baute
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