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Das Auge der Dunkelheit (German Edition)

Das Auge der Dunkelheit (German Edition)

Titel: Das Auge der Dunkelheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Dekkard
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Rauschen des Blutes in den Ohren. Das Mondlicht erlaubte ihnen, ungewöhnlich weit zu sehen, doch nirgends konnten sie eine Bewegung ausmachen. In der Ferne ertönte ein lang gezogener, klagender Laut, wehte heran wie das schauerliche Lied eines hungrigen Geistes. Zitternd presste Nini sich an Ellens Körper. Oberhalb am Hang klackte es. Dann wieder kroch ein Knirschen heran, verschwand und erklang wieder weiter entfernt.
Wie kann nichts solche Geräusche verursachen, fragte sich Ellen.
Sie fasste das Mädchen fester, um es zu beruhigen, aber auch sich selbst.
„Es ist das Gestein. Der Temperaturunterschied lässt es arbeiten.“
Heftig bewegte Nini den Kopf, glaubte kein Wort davon.
Bislang besaß Ellen keine Vorstellung davon, was Einsamkeit bedeutete. Nie wieder sollte sie dichter an dieses Gefühl heranrücken als in dieser Nacht. Ohne ein tröstendes Licht, ohne die Hoffnung, dass ihre Lage sich morgen ändern würde. Allein, zwischen einem Schlafenden, dem das halbe Gedächtnis fehlte und einem Mädchen, das sich schlotternd dem Wahnsinn ihres Aberglaubens hingab. Sie fühlte sich leer. Sogar der Rest von Angst, der noch den Mutigsten in einsamen Stunden heimsuchte, entwich leise. Dann fiel sie in einen tiefen Schlaf. Aufgeschreckt wurde sie von einer lauten Stimme, die in die Morgendämmerung schnitt.
    „ Was hat mir der Arsch da in die Vene gepumpt?“
Ellen beantwortete seinen Fluch mit einem erleichterten Seufzer. Er war wieder er selbst, wieder in der Wirklichkeit, die er vermutlich im nächsten Moment bedauern würde. Das Grün seiner Augen leuchtete ohne die Eintrübung des gestrigen Tages.
„Wie kommen wir hierher? Hast du diesen Schweinehund erledigt?“
Als Ellen ihm eine kurze Zusammenfassung gab, kratzte er sich ungläubig am Hinterkopf.
„ Ich hab uns hierhin geführt? Mein Gott, die letzten 24 Stunden sind komplett gelöscht.“
„Dir ist nicht viel entgangen“, sagte sie und breitete die Arme aus.
Mit ausdruckslosem Gesicht verlor er sich in der unwirklichen Szenerie, während Ellen die Wasserrationen verteilte. Darin bestand ihr Frühstück. Heute würde zu den Strapazen noch der Hunger dazukommen. Wie, fragte sie sich, würde Leonard die Wucht der auf ihn einstürmenden Eindrücke vertragen? Vermutlich kam er sich vor, als habe man ihn ein Jahr lang in ein lichtloses Loch gesperrt. Und dann ohne Vorwarnung vor Hunderte plärrender Fernsehgeräte gesetzt. Er verkraftete es erstaunlich gut.
„Es ist, als hätte ich einfach zu lange geschlafen. Es fehlt nur der letzte Teil. Alles, was nach der Spritze kam.“
„Du sagtest gestern, du hättest zwei Menschen getötet.“
„Tatsächlich? Da war ich wohl nicht ganz bei Verstand“, erwiderte er undurchsichtig. Ohne zu verraten, ob er bei der Aussage oder beim Töten nicht ganz bei Verstand gewesen war. Das aufklarende Bewusstsein warf auch ein Licht auf seine dunklen Begleiter. Die Beklemmung, den Drang, Teile der Wahrheit auszusparen, der Lüge durch Zweideutigkeiten auszuweichen. Ihn traf keine Schuld, was den ersten Mann anging. Aber hätte er den Chinesen wirklich töten müssen ?
Ellen befürchtete, gestern sei die Wahrheit, wie Kavenay es ausgedrückt hatte, auf direktem Wege herausgekommen. Unverfälscht. Und dennoch weigerte sie sich, sie anzuerkennen. Aus seiner ausweichenden Antwort las sie, was sie hören wollte. So blieb dieses mörderische Detail seiner jüngsten Vergangenheit für beide in der Schwebe. Auch, weil Ellen eine andere Frage bedrückte, eine lebenswichtige. In seinem vernebelten Zustand hatte Leonard darauf bestanden, den Weg zu dem auffällig gewellten Bergkamm einzuschlagen. Weil sie es ihm gesagt hatte. Eine Halluzination, die dem Halluzinierenden jetzt nicht einmal mehr im Gedächtnis haftete. Wie konnten sie ihm weiter folgen?
„Ich schätze den Weg dorthin auf mindestens drei Tage. Schränken wir uns extrem mit dem Wasser ein, reicht es höchstens noch für zwei“, rechnete sie aus. „Einen kommen wir in der Hitze vielleicht ohne aus. Aber wenn dort nichts ist ...“
Leonards irre Entscheidung konnte bereits der eine, tödliche Fehler gewesen sein, die falsche Richtung einzuschlagen. Falls es in diesem öden Gebirge denn eine richtige gab. Ihnen blieb nur der Mut der Verzweiflung. Noch bevor die Sonne sich über den östlichen Gipfeln zeigte, brachen sie auf, wieder dem Talverlauf folgend. Leonard, dem der gestrige Marsch entgangen war, schritt in einem übertriebenen Optimismus aus. Und wie

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