Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
hätte sie es für möglich gehalten. Doch sie freute sich, von ihrem Geliebten mit dem Namen einer anderen Frau angesprochen zu werden. Die Droge hatte Leonards Erinnerung nicht vollkommen gelöscht.
„Ellen“, sagte sie sanft.
„Oh, ja, natürlich“, sagte er und rieb sich die Schläfen. „Was ist mit meinem Schädel?“
In dem ungeordneten Über- und Nebeneinander seines Gehirns suchte er nach einem Gedanken wie jemand, der seine Brille verlegt hatte. Halb blind, aber sicher, sie an einem bestimmten Platz abgelegt zu haben.
„Ellen. Sie haben mir gestern Abend versprochen, eine Sondererlaubnis zu besorgen.“
Ihm fiel noch etwas ein und er kramte in seinen Hosentaschen. „Das hab ich vergessen. Ich schulde Ihnen ja noch 50 Dollar.“
„Das ist jetzt unwichtig, Leonard. Es ist inzwischen mehr geschehen.“
In seinen Augen zeigte sich eine Spur Scham.
„Sie waren auf meinem Zimmer. Haben wir gestern Nacht etwa zusammen ...“
„Ja. Das auch. Aber jetzt müssen wir uns beeilen. Wir müssen fort von hier.“
„Klar. Fort von hier. Wird wohl das Beste sein.“
Er hatte diesen Kerl erschossen, die Bullen würden bald auftauchen. Was lag da unten im Laderaum? Er müsste noch mal mit Talley reden. Nein, nein, mit dem anderen. Kavenay? Die Klinge! Pechschwarz. Das hatte er deutlich gesehen. Und wieso nannte Deirdre ihn Leonard? Er hieß Martin. Martin Conley. Ganz bestimmt.
Als er vor die Tür trat, berührte d ie Luft seine Wangen mit kalten Händen. Verwirrt registrierte er das Panorama und die Hütte.
`Das ist doch nicht das Old Empire Hotel. Dort lauerte ein Dämon. Zimmer 300.´
Vor der Hütte nebenan lungerte noch eine Frau, dunkelhäutig. Die hab ich schon mal gesehen, dachte Leonard und ging auf sie zu. Ja, ganz sicher kannte er sie. Den Braunton ihrer Haut, die Runzeln, die ungewöhnlich strahlenden, jungen Augen. Was sagte sie noch?
Einer von ihnen ist hier. Er wird versuchen, dich zu töten.
„Wer?“, fragte er. „Wer versucht, mich zu töten?“
Die Alte hob ihren Arm, zeigte hinunter in die braune Wüste, auf eine runde, auffällig gewellte Bergkuppe. Der Rücken einer riesigen, schlafenden Schlange.
„ Geh. Geh jetzt. Du hast nicht mehr viel Zeit.“
„Mit wem redet er da?“, flüsterte Nini.
„Er ist noch ein wenig benommen.“
Ellen fand ihre Tasche wieder mit den Papieren, Geld, Leonards falschen Ausweis. Einen Rucksack füllte sie mit Wasserflaschen. Dazu stopfte sie Ninis Rock und Bluse. Dem Mädchen trug sie auf, sich ebenfalls die groben Baumwollsachen anzuziehen, die für den Marsch bequemer sein würden.
„Leonard. Alles okay?“
„Ja, ja. Kein Problem. Wir können los. Dorthin.“
Dabei zeigte er auf den gewellten Bergkamm. Sie bezweifelte, dass er ihre Lage mehr als ansatzweise beurteilen konnte. Aber diese Richtung mochte so gut oder schlecht sein wie jede andere. Und seine Stimme klang fest, munter und bestimmend, als sei er sicher .
Aus dem Laken der Liege schnitten sie Tücher, um Kopf, Nacken und Gesicht vor den Sonnenstrahlen zu schützen. Sie stiegen den Hang hinunter. Die Luft flimmerte über den fernen Bergkämmen, aufgeheizt durch die rasch steigende Sonne. Den Fels unter ihren Füßen bedeckte nur eine dünne Schicht feinkörnigen Sandes, trotzdem stolperte Nini mehrmals und fiel schließlich. Ellen ahnte, warum.
„Schau noch vorn, Nini. Den Hubschrauber werden wir hören, noch bevor er in Sicht kommt.“
Es beruhigte das Mädchen, obwohl die schattenlose Einöde kein Versteck bot. Nach einer Stunde, in der ersten Talsohle, brannte die Sonne senkrecht auf sie herunter, heizte dunklen Boden auf. Ihr Keuchen war der einzige Ton in diesem stummen Universum. Leonards Körper zeigte sich in besserer Verfassung als sein Geist. Unermüdlich stapfte er voran, die schweren Wasservorräte auf dem Rücken. Ellen fürchtete, Nini würde die Strapazen nicht lange aushalten. Doch auch das Mädchen setzte stoisch einen Fuß vor den anderen. Klaglos, mit einer für ihren zierlichen Körper unglaublichen Zähigkeit. So bat Ellen selbst, ermattet von der erbarmungslosen Mittagshitze, um die erste Pause. Jeder nahm nur einen Schluck aus der ersten Wasserflasche. Dann setzten sie ihren Marsch fort durch die Monotonie der kahlen Berge. Die Augen auf den Boden gerichtet, um nur nicht den Fragen ins Gesicht sehen zu müssen. Wie weit würde es sein? Was wartete hinter dem nächsten Bergrücken, außer wieder nur ein Bergrücken? In Ellen brannten noch andere
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