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Das Auge der Dunkelheit (German Edition)

Das Auge der Dunkelheit (German Edition)

Titel: Das Auge der Dunkelheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Dekkard
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hatte. Leonard kniete sich neben sie auf den Boden. Aus der Wunde sickerte Blut. Zu viel. Mit beiden Händen umklammerte Ellen das Holz.
„Wir müssen sofort hinauf, sehen, was wir noch retten können“, kam es gurgelnd aus ihrer Kehle. Ihre Augenlider fielen herunter. An ihrem Handgelenk spürte er, wie sich der Puls verlangsamte. Ihr blieben nur noch Minuten. Er wollte sie beruhigen, konnte den Tempel durch das zerschlagene Gehölz aber nicht ausmachen.
„Ja, natürlich“, sagte er sanft. „Mach dir keine Sorgen. Die Haupthalle steht noch. Es ist noch alles da.“
„Gut.“ Ihre Stimme sank ab zu einem Wispern. „Das ist gut. Muss mich nur zuerst ein wenig ...“
Als ihr letzter Hauch zerstob, sah sie wirklich aus, als ruhte sie sich nur ein wenig aus, als wäre sie friedlich eingeschlafen.
    Sie begruben sie weiter unten am Fuß eines grünen Hügels. An der dem Fluss zugewandten Seite, wo ihn die aufgehende Sonne berührte. Nach einem undurchsichtigen Ritual suchte Nini die geeignete Stelle für das Grab. Ihren Anweisungen folgend bestattete Leonard Ellens Körper Richtung Osten, dem Reich des Werdens, des Auferstehens zugewandt. Wortlos wachten sie die folgende Nacht im Schein eines Feuers, ein Fünkchen in der vollkommenen Dunkelheit der Berge. Die brutale Realität stand Leonards Wunsch im Weg, Ellens Körper aus dem Dschungel zu schaffen. Abgesehen vom natürlichen Verfall hätten sie Tage gebraucht, einen bewohnten Ort zu erreichen. Und wen hätte er kontaktieren sollen, um ihr ein anständiges Begräbnis zu ermöglichen. Andererseits, was bedeutete das? Ein anständiges Begräbnis. Gab es für sie einen angemesseneren Ort als hier? In der Stille der Berge, dem Ziel ihrer letzten Reise?
Ninis Sorge galt der Seele ihrer Herrin. Aus Blättern bastelte sie ein Boot, stopfte im Wald gesammelte Opfergaben hinein und setzte es in den Fluss. Es schwamm davon und lockte die Geister fort, die sich sonst um Ellens Grab geschart und sich ihrer Seele bemächtigt hätten. Dann versanken sie und Leonard in stiller Trauer. Die Sterne funkelten nieder. Neun davon standen um diese Jahreszeit im Zenit. Sie strahlten besonders hell.

Kapitel 53
    In der Frühe beherrschten Leonard wieder die nackten Notwendigkeiten seiner nächsten Schritte. Er vermutete, der Bootsführer sei ein Stück flussabwärts gefahren, um dem Felssturz zu entgehen. Aber von dem Mann fehlte jede Spur. Als sei er vor einer anderen Bedrohung geflohen. Da ihnen der weglose, unbekannte Dschungel ein Fortkommen unmöglich machte, entschloss sich Leonard, dem Tazo abwärts zu folgen, bis sie auf den Chindwin-Zufluss trafen. Von dort führte ihr Weg wiederum flussabwärts bis zum Handelsposten. Herauf mit dem Boot dauerte es zwei Tage. Zu Fuß kostete es mindestens die doppelte Zeit. Eine Stunde stolperten Nini und Leonard durch das flache Wasser unter dem Ufer, als der Dschungel ohne Vorwarnung ein Gruppe Männer ausspuckte. Die Mündungen von Schnellfeuergewehren richteten sich auf sie. Die Männer trugen Jacken und Hosen aus bunt gemustertem Stoff, erkennbar keine Regierungstruppen. Sie gehörten der Chin National Army an, dem bewaffneten Arm der Unabhängigkeitsbewegung.
Wie die überhastete Flucht des Bootsführers bewies, benutzten sie ihre Waffen ohne Rücksicht. Leonard verstand die Feindseligkeit, mit denen ihnen die Kämpfer begegneten. Ihnen allen drohte der Tod, sollten sie der burmesischen Armee in die Hände fallen. Unter ihnen befand sich keiner, der Leonards Sprache verstand.
Verängstigt schwieg Nini. Es kursierten Gerüchte, die Rebellen würden burmesische Frauen verschleppen. Ihre Phantasie malte ihr Schicksal in Schwarz. Einmal war sie diesem Horror entkommen, als Ellen sie vor Monaten aus dem Griff der Schlepper befreit hatte. Hier würde auch kein Geld helfen.
    Der Truppführer raunzte ihnen zwei, drei Sätze entgegen. Ihren Sinn konnte sich Leonard denken. Sie waren Gefangene der Chin National Army . Man führte sie in ein Camp, zwei Stunden Fußmarsch in den Dschungel hinein. Dort trafen sie auf eine Handvoll weiterer Kämpfer, unter ihnen ein Mittzwanziger, eine zierliche Gestalt mit weiblichen Zügen. Offenbar beurteilte er selbst diesen Eindruck als Makel, denn er hatte sein sanftes Gesicht mit einer martialischen Tätowierung verwüstet. Ein ehemaliger Student, des Englischen mächtig. Wieder einmal wunderte es Leonard, zu welchem Leben die Umstände in diesem Land einen Teil der gebildeten Elite zwangen. Sie fristeten

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