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Das Auge der Dunkelheit (German Edition)

Das Auge der Dunkelheit (German Edition)

Titel: Das Auge der Dunkelheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Dekkard
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Erscheinen zog sie wieder das unbeschreibliche Innere des Tempels in den Bann. Selbst das bange Gefühl bei der Erschütterung wich schon der Freude darüber, dass das Beben keinen Schaden angerichtet hatte.
„Was? Warum? Wir können jetzt nicht fort hier.“
Sie ignorierte sogar die beiden Geräusche, die dicht aufeinander folgten. Zuerst drang das Knattern eines Bootsmotors aus dem Tal herauf.
„Der Kerl haut ab!“
    Leonard blieb keine Zeit, das warum zu ergründen. Das zweite Geräusch begleitete wieder ein Zittern des Grundes. Und dieses Mal kam es nicht aus der Tiefe.
Die Ursache des Bebens hatte er richtig gedeutet. Ein leichter Erdstoß. Aber er genügte, um 1000 Meter über ihnen den Riss in einer Felskante zu verbreitern. Das Gewicht des auf ihr lastenden Gesteins brach sie. Mit dem Donner eines Monsungewitters rasten die Felsmassen den steilen Hang herab. Schnell stopfte er alles in Ellens Tasche und betete, diese Sekunden würden ihnen nicht zum Verhängnis werden.
„Raus hier! Sofort!“
„Aber wir können doch hier drinnen warten.“
Leonard packte Ellens zweiten Arm und zusammen mit Nini zog er sie ins Freie. Ein Stück den Hang hinunter ragte ein Felsvorsprung über den Grund. Ihre einzige Rettung. Sie hasteten die Schneise hinunter, die sie selbst in das Gestrüpp geschlagen hatten. Unter das herannahende Grollen mischte sich das Krachen von Stämmen und Ästen, von den Felsbrocken geknickt wie Streichhölzer. Die ersten kopfgroßen Vorboten schossen wie Kanonenkugeln an ihnen vorbei, sausten jaulend hoch durch das Geäst, einen Splitterregen erzeugend. Dumpf schlugen sie auf, Erdfontänen hochschleudernd. Ohrenbetäubendes Bersten von Holz kündigte den ersten tonnenschweren Brocken an. Mit explosionsartigem Schlag traf er die linke Kammer des Tempels, zerstob sie zu einer Wolke aus Staub und messerscharfen Schrapnellen. Eines streifte Leonards Schulter, schleuderte ihn nach vorn. Er griff blind um sich, um Halt zu finden, erwischte Nini. Beide fielen und schlitterten den Hang hinunter. Einen Meter unterhalb des rettenden Vorsprungs bekam er einen Ast zu fassen. Mit der anderen Hand hielt er Nini und bremste so ihr Abrutschen. Eingedeckt von einem Trommelfeuer aus Gestein erkannte er, dass der Hauptteil der Lawine Meter entfernt zu ihrer Rechten herabdröhnte. Der dunkelbraune Strom schüttelte die Bäume durch, als rase eine Hundertschaft in Panik geratener Elefanten hindurch, alles niederwalzend, was ihr in den Weg kam. Dort hätten sie keine Chance gehabt. Er schwang sich zur Seite, in den Schutz des Felsvorsprungs. Auf die Knie gesunken blieb Nini zurück und starrte den Hang hinauf.
„Nini! Komm hier rüber!“
Sie reagierte nicht. Mit einem Satz sprang Leonard aus der Deckung, verharrte in der Bewegung. Weiter oben am Hang stand Ellen, reglos, die Hände über dem Kopf.
„Ellen! Was zum Teufel ...!“
Tränen standen ihr in den Augen. Sie zeigte in Richtung des Tempels. Über ihr erhob sich ein mächtiger Schatten, fegte zwei Bäume zur Seite. Panisch warf sie den Kopf herum, wollte dem Felsen, zweimal größer als sie selbst, ausweichen.
„Bleib stehen!“, schrie Leonard in das Getöse. „Er verfehlt dich.“
Mit durchgedrückten Knien, sprungbereit, verharrte sie auf der Stelle. Der gewaltige Stein taumelte grollend zur Seite, wischte nur Zentimeter an ihrer rechten Schulter vorbei. Leonard bekam keine Zeit, auszuatmen. Immer noch kniete Nini am Boden und barg ihr Gesicht in den Händen, ein Stoßgebet auf den Lippen. Sich brüllend den Weg bahnend, raste der Felsen nun auf sie zu. Leonard packte ihre Schulter und riss sie unter den Vorsprung. Wuchtig krachte das Ungetüm gegen die Seitenwand ihres steinernen Unterstandes, hüllte sie in eine Staubwolke, nahm ihnen die Sicht. Der Gewitterdonner verzog sich weiter talwärts, von oben rollten nur noch kieselgroße Steine die in den Wald gefräste Schneise hinunter. Leonard kroch unter dem steinernen Vorsprung hervor und kraxelte den verwüsteten Hang hinauf. Hinter einem Baumstamm lugte Ellens Schulter hervor. Mit dem Rücken angelehnt, saß sie auf dem Boden.
„Das war verdammt knapp, Ellen.“
Später fragte sich Leonard immer wieder, warum er zuerst ihre Augen wahrgenommen hatte, die ihn lebhaft ansahen. Und nicht das Blut, das aus ihrem Mund lief. Und nicht das, was in ihrem Unterleib steckte. Ein armdicker Splitter, den der Stein Sekunden zuvor aus einem Baumstamm gefetzt und in einen tödlichen Speer verwandelt

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