Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
schnelle Ausweichbewegung, die Leonard ausführen wollte, plante er mit ein. Und für den unwahrscheinlichen Fall eines Fehlwurfs packte seine andere Hand das nächste Geschoss, das dem ersten keine drei Sekunden später folgen sollte.
Der blutrünstige Höllenbote , der den Tempeleingang bewachte, verdammte Nini zur Bewegungslosigkeit. Sie hatte den verräterischen Mönch bemerkt. Seine Anwesenheit bedeutete Gefahr, für ihre Herrin und auch für den Weißen. Dieses Bewusstsein flößte ihr genug Mut ein, sich mit einem faustgroßen Stein zu bewaffnen. Aber dieser Mut entwich mit ihrem Atem, je näher sie dem Eingang kam. Sie schloss die Augen, fasste das Schutzamulett, das sie um den Hals trug, und murmelte eine Beschwörung. Doch das Vertrauen in die Wirkung der magischen Formel floh, schnell wie der feine Rauchfaden einer soeben ausgeblasenen Kerze. Sobald sie die Augen öffnete, von denen des Unabwendbaren getroffen wurde. Zu übermächtig die Angst, das Ding würde erwachen, wenn sie nur einen Fuß auf die Schwelle setzte. Aus dem Tempelinnern vernahm sie Worte, verstand ihre Bedeutung nicht, spürte aber die Drohung, die in ihnen schwang. Sie spannte sich, bereit, zu fliehen, sobald der Schreckliche sich bewegte. Ein Kribbeln lief unter ihren Sohlen entlang, als sei sie auf ein fettes, vielbeiniges Insekt getreten. Es setzte sich fort, die Waden hinauf, bis schließlich der ganze Boden unter ihr zitterte. Die Gefahr, die sich ankündigte, übertraf jene, die von dem Mönch ausging, um ein Vielfaches.
Arundhavis Arm fuhr nach vorn, das tödliche Geschoss noch zwischen den Fingern, als ihn der Stoß aus dem Gleichgewicht brachte. Die Wurfklinge entglitt ihm und klinkerte zu Boden.
„Ein Erdbeben!“, rief Ellen.
Der Boden versetzte sich in Schwingungen, als balancierten sie auf einer Eisscholle, gerade dick genug, ihr Gewicht zu tragen. Steine prasselten auf das Tempeldach, vor einer der Fensterhöhlen ging ein Kieselsteinregen nieder. Die Kronen der Bäume rauschten wie von einem kräftigen Windstoß. Es dauerte nur Sekunden. Für eine Weile noch hefteten sich ihre Augen auf den Boden, ob sich ein Riss zeigte. Ein leichter Erdstoß, dachte Leonard. Oder das Epizentrum lag Hunderte von Meilen entfernt.
Seine Reaktion kam zu spät. Nie zuvor hatte er ein Erdbeben erlebt. Der Eindruck hielt ihn zu lange gefangen. In der angespannten Ruhe, die folgte, regte sich Arundhavi als Erster, und er hob die Klinge wieder auf. Als Leonard zu einem Sprung nach vorn ansetzte, stand der Mönch bereits wieder in Angriffsstellung, die blitzende Klinge in der Hand. Gelähmt starrte Leonard über Arundhavis Schulter hinweg auf den Schatten, der sich hinter dem falschen Mönch erhob. Es sah aus, als hole der steinerne Dämon mit seiner Klaue zu einem Schlag aus. Mit Wucht traf er Arundhavis Hinterkopf und Nini wurde vom Schwung ihres lautlosen Angriffs nach vorn geschleudert. Sie fiel über den schlaffen Körper und der Stein, mit dem sie zugeschlagen hatte, rollte vor Leonards Füße. Keuchend atmete sie aus, stieß den reglosen Arundhavi angewidert von sich. In der nächsten Sekunde war Leonard über ihm und nahm das Wurfgeschoss an sich. Mordlust verbrannte alles in ihm.
`Töte ihn! Jetzt! Sonst wird er dich töten!´
Die Stimme fegte jeden klaren Gedanken fort. Eine alte Stimme, eine, rauhe, voller Wut und Hass. Tief drinnen wehrte er sich noch. `Das bin nicht ich. Das ist nicht meine Stimme!´
`Töte ihn. Er hat es verdient!´
Zweifellos hatte er es verdient. Leonard kniete sich vor den Bewusstlosen, visierte die Halsschlagader an.
„Was tust du da, Leonard?“
Diese Stimme stammte aus der realen Welt.
„Ich muss“, keuchte er.
Ninis schlanke Finger legten sich auf sein Handgelenk, in einer sachten Berührung. Aus ihren braunen, unergründlichen Augen fuhr ein heller Strahl direkt in seine Seele. Nicht um Gnade, um das Leben des Mönches flehte sie. Ihn selbst wollte sie beschützen.
Er fühlte, wie er erwachte, wie das Mädchen ihn von der finsteren Stimme befreite. Mit einem Anflug von Abscheu warf er die Klinge von sich. Ein Lächeln huschte über Ninis Gesicht, ein fernes Wetterleuchten. Dann verdunkelte ihre Miene wieder. Unvermittelt sprang sie auf die Beine, lief auf Ellen zu, packte ihren Arm und zog daran.
„ Ma Khin . Müssen fort von hier! Schnell.“
Ellen versuchte, sich dem Griff zu entziehen, wies mit der freien Hand auf die Wände. Kaum fünf Minuten nach dem Schrecken über Arundhavis
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