Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
winziger Füße. Ameisen. Er spürte das Kribbeln am Hinterkopf, den Wangen, an Armen und Beinen, als die ersten Insekten die Beute neugierig mit ihren Fühlern bestrichen. Sie würden das Fressen beginnen, noch bevor er seinen letzten Atemzug tat. Gefangen in dem feucht heißen Grab zwang er sich zur Ruhe. Er versuchte, die Finger zu bewegen. Das Metall musste der Kris sein. Sie hatten ihn in seine Hände gelegt, wie ihre Vorväter auch bei Conley verfahren waren. Aber die Stricke lagen zu eng. Es würde ihm genauso wenig wie dem Offizier gelingen, den Dolch zu benutzen. Ja, jetzt hatte er ihn gefunden. Und jetzt brachte er ihm das gleiche Ende, ohne Hoffnung. Nini und Manao würde sicher das gleiche Schicksal zuteil, in den Bäumen neben ihm, ebenso stumm und hilflos wie er selbst. Das leise Trippeln und Rascheln im Innern seines Gefängnisses verstärkte sich. Nach einer, vielleicht zwei Stunden vernahm er das Kreischen und Johlen der Urwaldbewohner. Die Nacht brach an, seine letzte. Er fühlte das erste Zwacken, am Hals und an den Oberschenkeln. Die Ameisen begannen mit dem tödlichen Werk. Draußen raschelte es. Dann ein Ratschen, wie zerreißender Stoff, leises Gurgeln, Plätschern, als verschütte jemand Wasser aus einer Gießkanne.
Vergiss es, dachte Leonard entmutigt, es wird irgendein Tier sein. Plötzlich knirschte es, eine Metallspitze stach durch die Rinde. Drei weitere Stöße folgten und der Verschluss des Baumgrabes fiel zu Boden. Grelles Licht brannte in die Netzhaut, wanderte von seinem Gesicht hinunter zu seinen Händen, versackte in der schwarzen Klinge des Dolches.
„Ihr habt ihn. Bei Gott, Ihr habt ihn wirklich gefunden.“
Diese Stimme. Leonard hatte sie vernommen, als sie sanft klang und freundlich. Und er hörte sie Drohungen ausstoßen, als sie ihn in den Tod schicken wollte. Arundhavi. Im Streulicht der Taschenlampe erkannte er das Gesicht des obskuren Mönches. Die schlanken Hände griffen nach dem Auge der Dunkelheit, nahmen es an sich. Sekunden lang starrte Arundhavi auf den Dolch, der die tödlichsten Begierden auslöste. Dann legte er ihn behutsam auf die Wurzel des Baumes. Daneben lag der leblose Körper eines Eingeborenen, die Kehle durchtrennt. Wächter der Danah Oth, um die Todgeweihten zu empfangen, falls ihnen der Ausbruch gelingen sollte. Mit dem mörderischen Mönch hatten auch sie nicht gerechnet. Stumm verfluchte Leonard sein Schicksal. Arundhavi hielt nun in Händen, was er begehrte. Ihn würde er als lebendes Aas den Tieren überlassen. Doch dem Mönch erschien das nicht sicher genug. Er griff das Jagdmesser, mit dem er erst die Kehle des Wächters und dann die Rinde durchstoßen hatte. Arundhavi setzte die Klinge in Leonards Bauchhöhle an. Mit einem kräftigen Aufwärtsschnitt durchtrennte er die Seile, die Leonard gefangenhielten. Dann zog er den Knebel aus dem Mund und befreite Leonards freie Körperstellen von den gefräßigen Ameisen.
„Rasch. Wir müssen so schnell wie möglich fort von hier. Helft mir, die anderen zu befreien. Und keinen Laut. Vielleicht sind die übrigen Eingeborenen noch in der Nähe.“
Ihn hielten noch die hölzernen Mauern seines Gefängnisses, sonst hätte Leonard das maßlose Erstaunen von den Füßen gehauen. Sofort hastete Arundhavi zum benachbarten Stamm und begann, Manao aus seinem Verlies zu schälen. Leonard überwand seine Lähmung.
Auch vor den anderen Baumgräbern kauerten die zusammengesackten Körper der Wächter. Dem Mönch war es gelungen, nacheinander drei Männern die Kehlen zu durchtrennen. Keiner von ihnen hatte den nahenden Tod gespürt.
Leonard wandte sich dem Stamm zu seiner Linken zu. Nini rang mit ihren Fesseln und presste kehlige Laute hervor. Sie würde sofort losschreien. Den Knebel in ihrem Mund entfernte Leonard deshalb als letztes. Tief holte Nini Luft, setzte an, ihre ganze Todesangst hinauszujagen.
„Verzeih“, hauchte er, versiegelte ihre Lippen mit einem Kuss und wartete, bis sich ihr rasender Herzschlag normalisierte.
„Nehmt den Kris“, flüsterte Arundhavi. „Folgt mir. Schnell. Bleibt dicht zusammen.“
Er löschte die Taschenlampe und dann begann ihr schweigsamer Marsch durch die Nacht, durch das Land der Unsichtbaren. Alles wurde in den Hintergrund gedrängt, die Rettung in letzter Minute, die Angst, sich in der Dunkelheit hoffnungslos zu verirren. Sogar die Bedrohung, von den Danah Oth aufgespürt und getötet zu werden. Nichts davon übertraf Leonards Verwunderung über Arundhavis
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