Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
Verhalten. Auch der Mönch hatte gemordet, um in den Besitz des Dolches zu kommen. Und nun begnügte er sich damit, ihn nur kurz in den Händen zu halten. Er hatte sie verschont, sogar sein Leben riskiert, um ihres zu retten. Was war geschehen? Und wohin führte er sie nun?
Kein Wort fiel, bis sie das Gebiet der Danah Oth, die Mumie in dem schwarzen Ei hinter sich gelassen hatten. Als sie am frühen Morgen den Bachlauf überquerten, übermannte ihn eine düstere Gewissheit. Während die anderen hörbar aufatmeten, legte sie sich drückend schwer auf seine Seele. Seine Begleiter hatten die Prophezeiung des tuai aus dem Dayak-Dorf widerlegt. Aber er, Leonard Finney, war für die Welt der Lebenden verloren. Die Stimmung der anderen hob sich, je weiter sie sich von den Sehenden Wäldern entfernten. Trotzdem wagten sie erst um die Mittagsstunde, eine Rast einzulegen. Arundhavi griff in seine Umhängetasche, holte ein plastikummanteltes Päckchen heraus und reichte es Leonard.
„Der Eingeborene, der Euer Grab bewachen sollte, hatte dies bei sich. Ich denke, es gehört Euch.“
In den Wirren der Ereignisse hatte Leonard den Verlust von Conleys Aufzeichnungen nicht bemerkt. Seine ganze Sorge galt stets nur dem einen Dokument, das er in dem schmalen Geheimfach seines Gürtels verbarg. Die originalgetreue Kopie der Lagebeschreibung, die er zusammen mit Ellen im Burma-Heiligtum angefertigt hatte, kurz vor ihrem Tod. Er tastete danach und fühlte die minimale Ausbuchtung auf der Innenseite des Leders.
„Ich muss Euch um Verzeihung bitten.“
Arundhavis Stimme trug wieder den Tonfall, den sie besaß, als er sich noch Namdring genannt hatte.
„Ich wünschte Euren Tod, weil ich glaubte, Ihr hättet meine Brüder ermordet.“
Dann seufzte er auf.
„Leider nicht der einzige Irrtum, dem ich verfallen bin.“
„Was hat Sie dazu gebracht, Ihre Meinung zu ändern?“
„Meister Sen“, lautete die verblüffende Antwort. „Ich traf ihn in Kuching. Und er hat meine Seele gerettet.“
Von Arundhavi erfuhren sie, dass der Tempel in den Chin-Bergen zerstört war. Dem Mönch war gerade genug Zeit geblieben, das Ziel der Reise zu erfahren. Sie in Kuching aufzustöbern, bezeichnete er als die notwendige Konsequenz seiner Überlegungen, welche Schritte Leonard unternehmen würde. Schon Tage vor ihnen war Arundhavi in der Provinzhauptstadt angekommen. Er brauchte nur regelmäßig die Ankunftshalle des Flughafens aufzusuchen. Den weißhaarigen Chinesen ohne Leonards Wissen zu kontaktieren, hatte sich als noch einfacher erwiesen.
„Sen hat mir also Ihre Zusammenkunft dort die ganze Zeit verschwiegen.“
Das Gefühl, hintergangen worden zu sein, bohrte sich fest.
„Ich bat ihn darum“, beruhigte ihn Arundhavi. „Es schien mir nicht die rechte Zeit, dass Ihr es erfahrt. Es hätte Eure Sorge nur verdoppelt.“
Damit, dachte Leonard, konnte der Mönch durchaus recht haben.
„Wo ist Sen jetzt?“
„Er wartet in dem Dayak-Dorf auf uns. Wir haben von Eurem Missgeschick dort erfahren. Meister Sen konnte den tuai überzeugen, dass Ihr keine bösen Absichten verfolgt. Es besteht also keine Gefahr.“
„Oh, doch“, warf Manao ein. „Er wird wieder mit mir trinken wollen.“
„Inwiefern hat er Ihre Seele gerettet?“, wollte Leonard wissen.
„Wir begegneten uns wieder, bei seiner zweiten Reise nach Kuching, vor Tagen. Was er dort entdeckte, ist mehr als beunruhigend.“
Für Sekunden hielt Arundhavi inne, während der Schatten eines unsagbaren Grauens über sein Gesicht zog.
„Ich weiß, was Ihr auf Euch genommen habt, um das Auge der Dunkelheit zu finden. Aber ich beschwöre Euch. Dringt nicht weiter vor. Übergebt den Kris Meister Sen. Er ist der Einzige, der würdig und in der Lage ist, diese Bürde zu tragen. Ich selbst musste erkennen, wie vermessen mein Handeln war. Auch ich verzichtete, damit die Gefahr gebannt bleibt, die in der Pagode des Schwarzen Buddha lauert.“
„Was hat er entdeckt?“
„Es tut mir leid, Mister Finney. Meister Sen sprach von einem Rätsel. Dem letzten, größten. Er vertraute es mir nicht an. Und er tat recht daran. So muss ich es seiner Weisheit überlassen, ob es ihm ratsam erscheint, Euch in dieses Geheimnis einzuweihen. Meine Aufgabe war es, Euer Leben zu retten. Damit ist meine Rolle in dieser Geschichte an ihr Ende gekommen.“
Der Kris ruhte eingewickelt in einem Blatt, verschnürt mit Resten des geflochtenen Seils, die zuvor Leonards Hände gebunden hatten. Mister Sen,
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