Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
Speise– und Trankopfer enthielten, thronte die figürliche Darstellung einer Gottheit. Wong Tai Sin, Der Große Unsterbliche, dem heilende Kräfte nachgesagt wurden. Umrahmt von Blumen aus Blattgold, vor einem Gobelin aus roter Seide, warnten stumm schlanke Tafeln aus Ebenholz. Golden glitzerten darauf die Namen der Ahnen. Wenn seine Suche keinen Erfolg brachte, dachte Chan, würde dort bald auch sein Name stehen.
„Nun, alter Mann?“
„Seid Ihr sicher, dass dies hier original ist?“
Die Stimme des Kantonesen kiekste wie bei einem Jüngling im Stimmbruch.
„Ja, alter Mann. Das ist es. Was ist damit?“
„ Mata hitam “, hauchte Meister Sen. „Das Auge der Dunkelheit.“
Wie ist das möglich? , dachte Leonard, in die grauenvolle Fotografie versunken. An der Leiche selbst gab die Tätowierung nur scheinbar wahllos ineinander verschlungene Linien wieder. Hier jedoch zeigte sich mehr. Ein Teil der Linien, ein gleichmäßiges Muster ergebend, hob sich farblich vom Rest ab. Mit unfassbarer Präzision nur Millimeter tiefer eingeritzt traten diese Muster nur hervor, wenn das Licht in einem ganz bestimmten Winkel darauf fiel. In diesem Fall die schräg in die Schmiede einströmenden Strahlen der Morgensonne. Ein einmaliger Augenblick und genau da hatte Mahangir auf den Auslöser gedrückt. Im Halbdunkel von Gandrings Haus hatte die Trägheit des Auges nur die Wahrnehmung einer einheitlichen Fläche gestattet. Der unbestechliche Film aber hielt den feinen Unterschied der Farbgebung für immer fest. Leonard gab dem Doktor recht. Hierbei handelte es sich tatsächlich um eine Botschaft!
Gefesselt von dieser Entdeckung vertiefte sich Leonard in Mahangirs Notizen. Auf einem Blatt hatte der Malaie das Gebilde zu einem dreizackigen Stern vervollständigt und weitere Symbole hinzugefügt. Den Stern umgaben drei Zeichen. Ein liegender Halbmond, Flamme und Kegel. Im Zentrum des Sterns ein viertes Zeichen, ein undefinierbarer Schnörkel. Mahangir beseelte, wie schon zuvor Leonard, die Ahnung, dass die Tätowierung auf dem Rücken des Schmiedes nur den Teil eines Gesamtbildes zeigte. Diese Ahnung unterstützte eine andere Quelle. Der Nachdruck einer Radierung aus dem Jahre 1827. Der unbekannte Künstler hatte einen Kris dargestellt, und auf dessen Griff funkelte ebenfalls der dreizackige Stern. Unter dem Nachdruck las Leonard einen altertümlich klingenden Text, wonach es sich bei dem Sternsymbol „ um eine Absonderlichkeit handele, die ein Unikum hinsichtlich der Motive auf solcherart Waffen sei. Das gleiche treffe auf die widernatürliche Damaszierung des Metalls im oberen Drittel der Klinge zu. Auf keinem anderen Stück fände sich derartiges und man könne aus diesem Grunde davon ausgehen, daß der dargestellte Keris eine bloße Erfindung des Zeichners sei.“
Eine Einschätzung, die Mahangir nicht teilte. Von dem Blatt sprang Leonard sein handschriftlicher Vermerk entgegen: mata hitam!
Das Auge der Dunkelheit. Der Malaie glaubte also an dessen Existenz. Es stellte sich nur die Frage, welchen der vielen Legenden um diesen Kris er den Vorzug gab. Und ob er in die entsetzlichen Verbrechen verwickelt war, die deswegen begangen wurden. Leonard stöberte weiter. Die übrigen Notizen, mehr als fünfzehn einzelne Blätter, betrafen die Muster, welche die Fotografie farblich hervorhob. Sie bestanden aus jeweils sechs kurzen, übereinanderliegenden Linien. Die einzelnen Linien wiederum kamen nur in zwei Varianten vor, durchgezogen oder in der Mitte unterbrochen. Eines der Bücher, die Mahangir in der Buchhandlung erstanden hatte, diente ihrer Deutung. Eine Abhandlung über eine der ältesten Schriften Chinas, dem I Ching , besser bekannt unter seinem Namen: Das Buch der Wandlungen . Der Einleitung entnahm Leonard, diese Schrift sei über viertausendachthundert Jahre alt. Zugeschrieben wurde sie Fu Xi, einem der ersten Herrscher im Reich der Mitte. Von jenen Linienmustern, genannt die 64 Hexagramme, soll er auf übernatürliche Weise Kenntnis erhalten haben. Sie formten ein komplexes System zur Beschreibung und Deutung aller Dinge. Zur Einsicht in die Mysterien des Lebens, in das Wesen und Wirken des gesamten Kosmos.
Im Dunkel eines fremden Hotelzimmers hörte Leonard zum ersten Mal vom I Ching. Mit den weiteren Ausführungen darüber konnte er nur wenig anfangen. Das Studium des Buches der Wandlungen verschlang Jahre, so ahnte er, und es setzte Kenntnisse voraus, die er nicht besaß. Dem Malaien hatten sich ebenfalls
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