Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
gemacht. Diese ominösen Schamanen verwendeten große Mühe darauf, die Botschaft, ja sogar ihre eigene Existenz zu verschlüsseln. Er würde alle drei Palmblätter benötigen, um die ganze Information zu erhalten. Aber es gab keinen Hinweis auf den dritten Geheimnisträger. Und dieser englische Hundesohn war untergetaucht. Der Fluch, den Chan ausstieß, erschreckte sogar den Sekretär im Nebenzimmer.
Dieser Saukerl hat mich von Anfang an verarscht, dachte Leonard. Der Beleg dafür klemmte zwischen zwei Notizblättern. Eine zweite, kleinere Fotografie. Im gleichen Moment zuckte sein rechtes Ohr, wurde zu einem Klang jenseits der Zimmertür hingezogen, der die Hörschwelle nur minimal überschritt. Kurz hielt er inne, aber es blieb alles ruhig. Dann widmete er sich wieder seiner Entdeckung. Mister Mahangir hatte das Palmblatt fotografiert, den Fund von der Nalanda Star. Nur einmal, in Runcimans Haus, hatte er die Gelegenheit dazu besessen. Der Malaie erwies sich als extrem geschickt und diskret im Umgang mit seiner Minox-Kamera. Schon am Abend des Diners ahnte Mahangir die Bedeutung des Stückes, vermutete, was sich zwischen den Linien auf dem Palmblatt verbarg. Nur gab diese Fotografie sie nicht wieder. Das Licht war, anders als bei der Tätowierung, im falschen Winkel darauf gefallen. Und auch dort in Runcimans Haus hatte der Malaie gelogen. Er kannte jene alte Schrift, denn er hatte die Zeichen am Rand des Quadrates übersetzt. Leonard las die Reihe: 1, 4, 7, 12
Vergeblich hatte sich Mahangir bemüht, einen Sinn darin zu entdecken. Vergleiche mit diversen Systemen fernöstlicher Zahlenmystik blieben erfolglos. Wieder berührte ein Hauch Leonards Trommelfell. Wieder zu leise, um jemanden zu wecken, der im Halbschlaf vor sich hindöste. In Leonards Ohren schrie es mit dem Warnton einer Sirene.
Der Rezeptionist des Regent Singapore gehörte zu den Menschen mit hohem Verantwortungsbewusstsein. Eine E igenschaft, der eine Portion Misstrauen im Wege stand. Vielleicht spielte man ihm einen Streich. Er machte keinen Hehl aus seiner Homosexualität und seine Kollegen erlaubten sich hin und wieder einen Scherz mit ihm. Aus diesem Grund verzichtete er zunächst darauf, den Sicherheitsdienst zu informieren. Stattdessen hielt er eifrig nach dem Mann Ausschau, den ihm der Taxifahrer beschrieben hatte. Das Observieren des Eingangsbereiches blieb erfolglos, und die Sorge schlich ein, den Mann übersehen zu haben. Diese Sorge kämpfte mit der Angst, sich lächerlich zu machen, falls alles nur ein blöder Witz seiner Kollegen war. Schließlich beschloss er, selbst nachzusehen. Er übertrug die Verantwortung an der Rezeption einer Mitarbeiterin und fuhr mit dem Fahrstuhl hinauf in den sechsten Stock. Der Weiße mit den grünen Augen interessierte sich für das Zimmer 617. Als er den Gang hinunterlief, überkam auch ihn ein mulmiges Gefühl beim Betrachten der Wandporträts. Die historischen Gestalten warfen ihm vor, sich erst jetzt um diese Angelegenheit zu kümmern. Sein Herzschlag beschleunigte sich in dem Maß, in dem die aufsteigenden Zimmernummern an ihm vorbeihuschten. 612, 613, 614, 615, 616. Der Puls folgte dem vorgegebenen Takt. Vor der Nummer 617 holte der Rezeptionist Luft und horchte. Sollte er vielleicht doch jemanden rufen?
Er hob die Hand, um anzuklopfen und erstarrte in der Bewegung. Die Tür war nur angelehnt. Mister Mohan Mahangirs Schlüssel wartete unten im Fach, der Gast war noch außer Haus.
Er hat doch wohl nicht vergessen ..., schoss es dem Rezeptionisten durch den Kopf. Mit sanftem Druck schob er die Tür einen Spaltbreit nach innen. Sein Atem raste an die Grenze zur Hyperventilation. Vorsichtig reckte er den Kopf vor und spähte in das Dunkel des Zimmers. Die Anspannung schränkte seine Sicht ein, deshalb entging ihm der gesplitterte Rahmen. Er setzte einen Schritt in den Raum. Das Flurlicht streifte das Durcheinander auf dem Tisch. Im Halbdunkel nahm er das Bett wahr, die verschlossene Tür zum Badezimmer und das hohle Auge eines metallischen Gegenstandes. Die Mündung eines Revolvers. Kein Scherz, dachte er noch, bevor sich sein Kreislauf verabschiedete.
Die lärmige Bar Indochine gehörte zu einer Reihe düsterer Kaschemmen in einer Gasse hinter dem Ann Siang Hill in Chinatown. Kein geeigneter Ort, sich über seine Situation klar zu werden. Aber niemand vermutete ihn hier und deshalb bedeutete es zunächst Sicherheit. Wenn es einem gelang, die Gesellschaft von betrunkenen Matrosen, Nutten und
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