Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
ein Wort zu verlieren, stieg der Fahrer aus und schlenderte zum Hoteleingang. Er benötigte kaum fünf Minuten. Dann pflanzte er sich wieder hinter das Lenkrad des Taxis.
„Zimmer Nummer 617.“
Ein spöttisches Grinsen umspielte seinen Mund.
„Ihr Mann ist ausgegangen. Kommt erst gegen 22 Uhr zurück.“
Die Uhr zeigte k urz nach acht. Zwei Stunden würden reichen. Leonard stieg aus und lief auf den Eingang des Hotels zu. Auch der Taxifahrer zögerte keine Minute und steuerte die nächste Telefonzelle an. Ein Zusatzverdienst war eine Sache. Ein Weißer mit unlauteren Absichten eine andere. Er wählte die Nummer des Regent.
Runciman strich der Leiterin seiner Rechtsabteilung mit einer Hand über den schlanken Nacken. Sie hielten die Besprechung in seinem Haus ab. Aus Bequemlichkeit, aber auch, weil er es für geschickt hielt, sie gelegentlich herbeizuzitieren. Damit wollte er seiner Frau vor Augen führen, dass ihn nur die Arbeit mit der jungen Chinesin verband. Ein Aufwand, den er sich hätte sparen können. Mrs. Runciman spuckte darauf, wenn er sich mit seinen Angestellten vergnügte. Solange es eine Affäre blieb. Für den Fall, dass er die Scheidung forderte, hielt Mrs. Runciman eine unmissverständliche Antwort bereit. Eine Ampulle mit dem Gift einer Tarantel. Und eine winzige Metallklammer, die die Bisswunden des Tieres täuschend echt nachahmte.
„Wegen der Schiffsladung brauchen wir uns keine Sorgen zu machen“, sagte Lin. „SingAm Trading verzichtet auf Regress. Ihnen ist es egal, ob die Ladung verspätet gelöscht wird. Sie sind froh, dass sie überhaupt noch vorhanden ist.“
„Gut. Sehr gut.“
Ein Problem weniger. Nur wenig später wurde Runciman die Freude darüber furios aus dem Gesicht geschlagen. Das Telefon schrillte. Runciman nahm ab und Lin konnte beobachten, wie ihrem Chef die Kinnlade im Sekundentakt auf und nieder klappte.
„Was reden Sie da für einen Quatsch, Talley?“, bellte er in den Hörer.
Die aufgeregte Stimme des Abteilungsleiters drang bis an Lins Ohren. Runcimans Gepolter gab ihr eine Ahnung vom Inhalt des Gesprächs.
„Was soll das heißen, Sie haben geahnt, dass der Kerl Dreck am Stecken hat?“
Verärgert ballte Runciman die Faust.
„Dieser Mist hat mir gerade noch gefehlt!“
Barsch legte er wieder auf.
„Ist das zu fassen? Dieser Finney wird wegen Mordes gesucht. Kam gerade in den Nachrichten.“
„Oh“, machte Lin.
Obwohl Runciman schon lange in Singapur lebte, erstaunte ihn diese extreme Selbstbeherrschung der Asiaten immer wieder aufs Neue. Man konnte ihnen erklären, die Welt ginge in einer Stunde unter und sie machten: „Oh!“
„Einfach unglaublich. Man wollte ihn verhaften, aber er ist abgehauen.“
„Das muss ein Irrtum sein“, sagte Lin, „das wird sich aufklären.“
Wütend stampfte der Reedereibesitzer auf und ab.
„Steht im Kalender vielleicht gerade so was wie: Mach dem alten Runciman in dieser Woche möglichst viel Ärger?“
Lin schenkte ihm einen Augenaufschlag, der unter die Gürtellinie zielte.
„Wirklich nur Ärger?“
Ihre Augen und ihre niedlichen Oh´s faszinierten ihn. Mehr noch ihre Eigenart, in absolut jeder Situation an Sex zu denken.
„Ich brauch einen Drink.“ Er wandte sich ab. „Ajay!“
Runciman öffnete die Tür des Arbeitszimmers und wäre beinahe über seine am Boden kniende Hausangestellte gestolpert. „Himmelherrgott, Ajay!“
Rasch erhob sich das malaiische Mädchen mit einer Entschuldigung und schnappte sich Putzeimer und Wischlappen.
„Gin und Eis“, raunzte Runciman.
Die schlechte Nachricht hielt ihn im Griff, sonst wäre es ihm aufgefallen. Dies war nicht die Stunde, in der der Fußboden gewischt wurde.
In Gedanken ratterte der Rezeptionist die Beschreibung herunter, die ihm der Taxifahrer telefonisch durchgegeben hatte. Weiß, mittelgroß, dunkle Haare, grüne Augen, helle Hose und T-Shirt, trägt eine 7eleven -Tüte. Aufmerksam beobachtete er den Eingang. Keiner der Gäste, die die Lobby betraten, entsprach den Angaben. Chinesische Geschäftsleute, Ausländer in dunklen Anzügen, eine lärmende Gruppe japanischer Touristen. Abgelenkt von der Frage eines Hotelgastes entging ihm eine Gestalt. Sie schlüpfte durch den Nebeneingang und huschte in den Flur, die zu den Aufzügen führte.
Im sechsten Stock orientierte Leonard sich schnell und schlug den Weg zum Zimmer 617 ein. Roter Teppichboden dämpfte seinen Schritt. An den Flurwänden hingen die Porträts bedeutender
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