Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
rot unterlaufenen Augen.
„Ich bezahle Euch, damit Ihr mir die Dinge offenbart. Nicht, damit Ihr sie vor mir verbergt.“
„Ich versuche, Euch zu schützen, edler Chan. Aberglaube ist gefährlicher als die Wahrheit.“
„Seht mich an!“ Chan sackte in sich zusammen. „Ich verschimmele bei lebendigem Leib. Ich muss mata hitam haben. Mein Leben hängt davon ab. Und das da“, fügte er mit kühlerer Stimme hinzu und wies dabei auf die Wand, „zeigt, dass es mehr als nur eine Legende ist.“
Der weißhaarige Sen betrachtete die Zeichnungen. Viele glaubten schon, einen Beweis für die Existenz jenes Kris in der Hand zu haben. Und immer verlor sich die Spur im Sand. Er kannte Männer, die auf der Suche danach dem Wahnsinn verfielen. Und nun einem elenden Ende entgegendämmerten, mit leeren Händen. Aber was, wenn es nun doch wahr wäre? Und wenn sich in den Zeichnungen ein Hinweis auf den Dolch verbarg, warum tauchte er gerade jetzt aus dem Dunkel der Geschichte auf? Die Antwort, die hinter dieser Frage lauerte, erfüllte ihn mit größter Sorge.
„Darf ich fragen, woher die Zeichnungen stammen, ehrenwerter Herr?“
„Nein, alter Mann, das dürft Ihr nicht“, erwiderte Chan scharf.
Dann kicherte er leise vor sich hin. Meister Sen schob den plötzlichen Gefühlsumschwung auf die Wirkung des Opiates. Doch der Gedanke, der Chan für einen Moment belustigte, galt den Finneys. Obwohl ihm der Junge ein Dorn im Auge war, verdankte er den Alten die ersten Hinweise. All sein Geld und seine Macht umsonst verschwendet. Eine dumme Laune des Schicksals hatte es ausgerechnet diesen beiden alten Engländern vergönnt, eine Spur des lange verschollenen Geheimnisses zu finden. Und brachten ihn, Chan, damit ein Stückchen näher an sein Ziel.
„Diese Zeichnung ist unvollständig“, sagte Meister Sen und führte einen Finger an den zwei Zacken entlang. „Es fehlt ein drittes Stück. Jenes, das den dreizackigen Stern vollendet.
„Seht Ihr, alter Mann, Ihr wisst es also“, keuchte Chan, den sein Gekicher erschöpfte. „Und soweit kenne ich die Geschichte auch. Dieser Stern ist das Zeichen des Kris.“
Meister Sen nickte.
„Diese Linien um den Stern herum sind ein sehr altes Verfahren, Botschaften zu codieren. Es erstaunt mich, dass es immer noch im Gebrauch ist.“
Das ist es also, dachte Chan. Nur, fragte er sich weiter, tätowierte man jemanden den Rücken derart aufwendig, um eine Botschaft zu transportieren?
„Zur Codierung benutzte man häufig die Zeichen des Sanskrit“, führte Meister Sen weiter aus. „Manchmal auch die 64 Hexagramme aus dem I Ching . Nur ...“
Er brach ab und bewegte seinen Kopf nach links und rechts, um die Zeichnung aus verschiedenen Winkeln zu betrachten.
„Ja? Was?“
„Üblicherweise wurden solche Muster auf Tierhaut geschrieben oder weichem Holz. Die Zeichen verstecken sich in den Linien. Man benötigt Blütenstaub oder eine bestimmte Lichtquelle, um sie sichtbar zu machen. Aber Papier, selbst so feines wie dieses, ist ungeeignet für eine solche Prozedur. Es ist absolut nichts zu entdecken.“
Chan wusste, warum. Die versteckten Zeichen waren ihnen beim Kopieren der Tätowierungen entgangen. Dennoch bezweifelte er, dass sich darin mehr als rituelle Formeln verbargen. Sie wiesen nur auf die besondere Stellung der beiden Männer hin. Und ihre Beziehung zum Auge der Dunkelheit war gewiss. Meister Sens Ausführungen erhellten ein anderes Geheimnis. Bereits zuvor hatte Chan dessen Bedeutung geahnt. Aber jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Mit zittriger Hand holte er das Stück lackiertes Palmblatt aus seinem Gewand hervor. Anders als der lumpigen Gestalt auf dem Frachter war es Gandring nicht rechtzeitig gelungen, es zu verstecken. Das Palmblatt wies die gleichen feinen Linien auf. Wenn es eine Botschaft gab, dann verbarg sie sich hier. Dies war ein Teil des Schlüssels. Sofort verfinsterten sich seine Gedanken, als er die unvollständige Zeichnung noch einmal betrachtete. Drei! Es fehlte die Tätowierung mit dem dritten Zacken. Also gab es noch einen dritten Geheimnisträger! Und ein drittes Palmblatt. Das zweite besaß dieser Finney. Das hatte ihm sein Informant berichtet. Chan bezahlte Hunderte solcher Leute, die er überall einschleuste, wo er es für wichtig hielt. Und Runciman, diesen notorischen Kris-Sammler, hielt er für äußerst wichtig. Und auf diese Weise, einer weiteren lächerlichen Laune des Schicksals, hatte ihn der junge Engländer erst auf Gandring aufmerksam
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